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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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Spaziergangs. Auch in feministischer Lesart ist es vor allem Freud selbst, der analysiert wird. Er sei das Opfer der Männerfantasie, dass ein Mädchen Lustgefühle erfahre, wenn ein älterer Mann sexuelles Interesse an ihr zeige. Andere wiesen auf die heterosexuelle Voreingenommenheit, die in Freuds Behauptung stecke, jedes ›gesunde Mädchen‹ gerate in Erregung, wenn ein Mann ihr Avancen mache. Die französische Schriftstellerin Hélène Cixous ging noch einen Schritt weiter, sie weigerte sich, Dora als Opfer zu sehen. In ihrem Theaterstück Portrait de Dora ist Dora stattdessen die Heldin.
Anmerkung
Durch ihre Hysterie platziert sie sich genau an der Stelle, von der alle sie weghaben wollten: ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie durchbricht die Ordnung einer Existenz, die den Wünschen ihres Vaters und Herrn K. angepasst ist. Und als ihr Vater über Freud versucht, sie wieder zur Vernunft zu bringen, ergreift sie Gegenmaßnahmen: Sie verwirft seine Deutungen, bewahrt ihre Geheimnisse wie im Traum ihre Jungfernschaft und lässt ihn nach elf Wochen so verdutzt zurück, wie sie K. am Alpensee hatte stehen lassen.

    Das sind Kommentare, die den alten Patriarchen sozusagen ermahnen, sich auf die eigene Couch zu legen. Die tiefsten Regungen seiner Seele werden gemäß den von ihm selbst formulierten Prinzipien aufgedröselt, Identifikation, Verdrängung, Projektion. Am Kopfende der Couch sitzen Analytiker, die von Freud gutes Zuhören gelernt haben: Wortwahl, Stottern, Inkonsistenzen, Versprecher, Träume – alles kann ein Hinweis sein. Keine psychiatrische Theorie hat so viel Ideologiekritik hervorgerufen wie die Psychoanalyse; es gibt auch keine psychiatrische Theorie, die für Kritik so viel produktives Werkzeug angeboten hat.
    Psychoanalyse arbeitet – letzten Endes – mit Erinnerungen. Aber Freud sah an Erinnerungen vor allem, was ihnen fehlte. Das begann schon bei der Anamnese. Nichts von all dem, was der Patient erzählte, konnte in vollem Vertrauen angenommen werden. Noch bevor Freud mit der Geschichte über Dora begann, erklärte er, Patienten würden aus Scham oder Schüchternheit bestimmte Erinnerungen verschweigen. Andere Erinnerungen würden während der Analyse schlichtweg nicht im Bewusstsein auftauchen. Und was wirklich vergessen würde, werde häufig von ausgedachten Erinnerungen ersetzt. Der Analytiker müsse daher nacheinander auf ›bewusste Unaufrichtigkeit‹, ›unbewusste Unaufrichtigkeit‹ und ›Erinnerungstäuschungen‹ gefasst sein.
Anmerkung
Aber inmitten all dieses halben und ganzen Betrugs gäbe es auf jeden Fall einen Anhaltspunkt: Was der Patient vergessen habe – egal in welchem Sinn des Wortes –, habe sicherlich so viel Bedeutung wie das, woran er sich erinnert. Die Lücken könnten Hinweise auf eine erfolgreiche Rekonstruktion bieten. Freud hatte nicht umsonst von den archäologischen Scherben gesprochen.
    Freud spannte die Überlegungen zum Verdrängen in ein Dreieck, in dessen beiden anderen Ecken Hysterie und Trauma stehen. Für Dora sei die Kränkung, die in den Annäherungsversuchen von K. lag, das verdrängte Trauma. Dass sie sich zugleich nach ihm sehne, habe sie auch verdrängt. Aber Verdrängen bedeutete nicht Verschwinden: Ein Trauma oder verbotene Sehnsucht könne aus dem Unbewussten heraus in Gestalt einiger auf den ersten Blick unerklärlicher somatischer Anzeichen Unheil stiften. DieSymptome der Hysterie, schrieb Freud, seien »der Ausdruck ihrer geheimsten verdrängten Wünsche«.
Anmerkung
Umgekehrt könne psychoanalytische Deutung erhellen, was verdrängt sei, und so den Gedächtnisverlust ausgleichen. Die Beseitigung der Symptome und ihr Ersatz durch bewusste Gedanken habe eigentlich denselben Effekt wie die Beseitigung der Gedächtnisstörungen. Vom Patienten selbst dürfe man in diesem Prozess keinen Beifall erwarten. Widerwille und Widerstand seien gerade der Beweis dafür, dass der Analytiker auf dem richtigen Weg sei. So sei es auch bei Dora gewesen. Die Deutungen des Herumfummelns an ihrer Geldbörse, des nervösen Hustens und des Drucks auf ihren Oberkörper, den sie bei der Erinnerung an die Umarmung von K. noch verspürte, hatte sie schweigend oder unter Protest aufgenommen, aber Leugnen konnte Freud nicht beunruhigen: »Das ›Nein‹, das man vom Patienten hört, nachdem man seiner bewussten Wahrnehmung zuerst den verdrängten Gedanken vorgelegt hat, konstatiert bloß die Verdrängung und deren Entschiedenheit, misst gleichsam die Stärke

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