Das Buch des Vergessens
verbundenen Gefühle des Kummers und der Machtlosigkeit. Als Marita sich dieses Bild auf Bitte des Therapeuten so lebendig wie möglich im Geiste vorstellt, geht es ihr sehr schlecht. Der Therapeut bittet sie, auf einer Skala von 0 bis 10 anzugeben, wie schlecht. Marita antwortet: 9 (im EMDR – Jargon SUD 9, von Subjective Units of Distress). Sie trägt einen Kopfhörer, und während es in ihren Ohren abwechselnd links und rechts klickt, erzählt sie, was in ihr aufsteigt, wie sie sich dabei fühlt und welche Empfindungen sie in ihrem Körper wahrnimmt, ab und zu unterbrochen vom Therapeuten, der eine Frage stellt und sie dann auffordert, sich wieder auf das Erinnerungsbild zu konzentrieren. Allmählich sinkt der SUD auf 7 (›mir scheint, als würde ich ganz anders atmen‹), dann auf 5 (›das Gefühl, dass ich das Foto von jemand ganz anderem betrachte‹), dann 4 (›nichts, fühle mich neutral‹) und 0 (›ich ertrage es, mir das Bild anzuschauen‹).
Anmerkung
Eine Woche später erzählt sie, sie habe selbst versucht, sich das Bild von der umstürzenden Wand vor Augen zu führen, aber es sei ›vager‹ geworden und sie empfinde weniger dabei. In den folgenden Sitzungen werden weitere schmerzliche Erinnerungen behandelt. Insgesamt waren nur vier Sitzungen notwendig.
EMDR ist eine Technik auf der Suche nach einer Theorie. Auch Therapeuten, die sie in ihrer Praxis täglich anwenden, haben keine Ahnung, warum diese Technik wirkt. Die Abkürzung steht für ›Eye Movement Desensitization and Reprocessing‹, aber es gibt einen soliden Konsens, dass die Augenbewegungen genauso gut durch das Klicken ersetzt werden können, das Marita zu hören bekam. Auch bei den anderen Elementen im Namen, ›desensitization und reprocessing‹, ist nicht sicher, ob sie etwas zum therapeutischen Effekt beitragen, und wenn ja, was.
EMDR wurde 1989 von der kalifornischen Psychotherapeutin Shapiro eingeführt.
Anmerkung
Während eines Spaziergangs in einem Park hatte sie an einige sehr unangenehme Ereignisse zurückgedacht und gemerkt, dass sich ihre Augen dabei sehr schnell hin- und herbewegten. Danach schien es, als hätten die Erinnerungen ihre unangenehme Last verloren. Sie beschloss, diese Technik bei der Behandlung von Menschen einzusetzen, die unter traumatischen Erinnerungen litten. Ihr Artikel aus dem Jahr 1989 war der Bericht ihrer Promotionsstudie, für die sie 22 Patienten mit einer ›posttraumatischen Stressstörung‹ mit EMDR behandelt hatte. Sie waren allesamt geheilt.
Die posttraumatische Stressstörung ( PTSS ) war 1980 in die dritte Auflage des DSM aufgenommen worden und blieb mit einigen Änderungen auch in DSM IV erhalten. Die heutigen diagnostischen Kriterien spezifizieren unter anderem, dass der Betroffene an Wiedererleben, Albträumen oder Flashbacks leidet und dass er Reize, die mit dem Trauma zu tun haben, möglichst zu vermeiden versucht. Er wird auch übertrieben wachsam und reizbar sein (›hyperarousal‹), was sich in Schlaf- und Konzentrationsproblemen äußern kann. Vor dem Hintergrund eines schnellen Anstiegs der Zahl von Menschen mit der Diagnose PTSS war EMDR ein schneller Aufstieg beschieden.
Es gibt große Unterschiede zwischen der ersten Formulierung der Technik und der aktuellen Anwendung. Das R von EMDR kam erst später. Shapiro war anfänglich davon überzeugt, dass die Augenbewegungen halfen, das ›Desensibilisieren‹ zu beschleunigen. Desensibilisierung war aus traditionellen Therapien zur Behandlung von Trauma und Phobien bekannt: sich dem gefürchteten Reiz mehrfach aussetzen – in Wirklichkeit (›in vivo‹) oder in der Fantasie (›imaging‹) – sollte die Angst allmählich verblassen lassen. Später war Shapiro der Ansicht, Erinnerungen an traumatische Ereignisse seien wie dysfunktionale Informationen in neuronalen Netzwerken gespeichert. Diese Speicherung würde einen natürlichen Anpassungsprozess in Gang setzen, aber manchmal fahre sich dieser fest oder ginge die Anpassung zu langsam. Die schnellen Augenbewegungen könnten dann das ›reprocessing‹ beschleunigen.
Ein zweiter Unterschied ist die institutionelle Einbettung von EMDR . In ihren ersten Veröffentlichungen ließ Shapiro wissen, die Technik könne von jedem angewendet werden, der sich die Mühe mache, ihren Artikel aus dem Jahr 1989 zu lesen und die darin beschriebenen Anweisungen zu befolgen. Die Technik sei so einfach, dass sie kein spezielles Können erfordere. Das tat ihr ein Jahr später offensichtlich
Weitere Kostenlose Bücher