Das Buch des Vergessens
oder den Gefühlswert der Erinnerung nennt. Wenn die EMDR – Behandlung dies alles wegnimmt, kann man nicht sagen, die Erinnerung sei ›nicht vergessen‹ – in ihrer ursprünglichen Gestalt ist die Erinnerung jedenfalls verschwunden oder nicht mehr zugänglich und in diesem Sinn vergessen. Dass EMDR keine Vergessenstechnik sein soll, leugnet gerade diese Elemente einer Erinnerung, für die klinisch orientierte Psychologen von jeher das meiste Verständnis zeigten.
Therapeuten geben selbst hier und da auch zu, und sei es implizit, dass EMDR durchaus einen löschenden Effekt auf die Erinnerung hat. Ein Beispiel ist der Fall des fünfzehnjährigen autistischen Mädchens Gea.
Anmerkung
Angestachelt von zwei Freundinnen, hatte sie ein Paar Ohrringe gestohlen. Die Verkäuferin hatte sie dabei erwischt, und in ihrer Panik hatte Gea sie mit einer Schere niedergestochen. Die Verkäuferin wurde schwer verletzt. Gea wurde in ein Jugendgefängnis überstellt und späterhin in die psychiatrische Abteilung verlegt. Sie hatte regelmäßig Albträume von der blutenden Frau und litt unter Wiedererleben. Wegen ihrer posttraumatischen Beschwerden wurde sie für eine EMDR – Behandlung angemeldet.
Bei der Indikation entsteht eine interessante Diskussion. Soll dieses Trauma wirklich behandelt werden? Ihre Beschwerden könnten sie schließlich »von einem weiteren Verbrechen abhalten und sie dauerhaft an ihre schlechte Tat erinnern, wodurch sie auf der Hut bliebe. Wäre das so falsch?«
Anmerkung
Weil Gea Einsicht in ihre Tatzeigt und es ihr sehr leidtut, wird beschlossen, die traumatisierenden Erinnerungen doch zu behandeln. Das hat eine günstige Wirkung auf ihr Verhalten. In diesem spezifischen Fall kann man sich mit der Entscheidung, doch zu behandeln, identifizieren. Aber was ist mit einem Vergewaltiger, der von der Erinnerung an die Angst seines Opfers geplagt wird? Der Räuber, der Albträume vom Gesicht desjenigen hat, dem er die Pistole an den Kopf gehalten hatte? Traumata sind nicht per Definition dysfunktional, und mit der Behandlung könnte auch ihre Signalfunktion verschwinden. Diese ethische Frage braucht hier nicht gelöst zu werden. Aber die Tatsache, dass hier ein moralisches Dilemma auftritt, beweist, dass man nicht ohne Weiteres mehr sagen kann, EMDR ließe ›die Erinnerung selbst‹ intakt.
Was die Leute glauben
Hundert Jahre später kann man die ›Dora‹ von Freud kaum anders als kopfschüttelnd lesen. Der Bericht ist unverhohlen sexistisch (Dora beschäftigte sich »mit dem Anhören von Vorträgen für Damen«) und beschönigend gegenüber den Freiheiten, die sich ein erwachsener Mann gegenüber einer Dreizehnjährigen herausnahm.
Anmerkung
Freud bagatellisierte die wiederholten sexuellen Avancen. Er bedrängte Dora mit Deutungen, die sie als sexuell einschüchternd erfahren haben muss. Nicht umsonst hat gerade diese Krankengeschichte – ›Kranken‹ klinkt schon leicht seltsam – die meiste Kritik feministischer Historikerinnen hervorgerufen.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die feministische Bewegung, die die Hilfe für missbrauchte Frauen in Gang setzte, therapeutische Erkenntnisse über wiedergefundene Erinnerungen stützen konnte, die der kritisch betrachteten Psychoanalyse entstammten. So teilten sie ihre Metaphern. Der Missbrauch, den Frauen als Kind ertragen mussten, liegt wie ein verborgenes Trauma ›begraben‹ und muss aus dem befreit werden, was Freud als lang andauernde ›Verschüttung‹ bezeichnete. Das ist ein schwieriger Prozess, für den die ursprünglich psychoanalytischen Techniken eingesetzt werden: Traumanalyse, Hypnose, Zurückgehen in die frühe Jugend. Was zu Anfang der Therapie aufsteigt, sind nicht mehr als ›verstümmelte Reste‹, und es kostet viel Arbeit und Erfindungsgabe, die Scherben und Fragmente zu den Erinnerungen zu rekonstruieren, die sie einst waren, bevor sie verdrängt wurden. Genau wie in der Psychoanalyse kommt dem Patienten dabei keinerlei Autorität zu. Dass Laura Pasley sich nicht daran erinnern konnte, in ihrer Jugend missbraucht worden zu sein, fasste ihr Therapeut als Beweis dafür auf, dass sie diese Erinnerungen verdrängt habe. So erging es Tausenden von Frauen: Die Abwesenheit von Erinnerungen deutete auf Leugnen hin, und je heftiger die Verneinung, desto wahrscheinlicher würde beim Graben dennoch etwas gefunden. Das bedeutete, dass die Frauen die Vermutung des Therapeuten nicht selbst, aus ihrem eigenen Urteilsvermögen heraus,
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