Das Buch des Vergessens
Traum gewesen war: »Die Statendam ist tatsächlich in diesem Wassergraben gefahren. Unser Nachbar war Modellbauer, er hat die Statendam nachgebaut und sie anschließend im Graben hinter dem Haus zu Wasser gelassen! Das hast du nicht geträumt, das hast du gesehen!«
Anmerkung
Übrigens kommt es durchaus vor, dass sich Menschen als Erstes an einen Traum erinnern. Bei Piet Hagers, ehemaliger Wörterbuch-Chefredakteur bei Van Dale, war es ein klassischer Wecktraum: Er träumte, dass er von der Schaukel fiel, und wachte neben seinem Bett auf. Auch Zeichner Peter Vos hatte einen Traum als erste Erinnerung: »Ich träumte von so einem Mondrianbaum mit diesen Ästen, die dann durcheinandergerieten, was sehr beängstigend war.«
Anmerkung
In der Scheepmaker-Sammlung ist das Kind zum Zeitpunkt seiner ersten Erinnerung im Durchschnitt dreieinhalb Jahre alt. Aberes gibt große Ausreißer in beide Richtungen. Die frühste Erinnerung der Dichterin Neeltje Maria Min ist, dass sie während der Befreiung der Niederlande auf dem Arm ihrer Mutter die feiernden Menschen auf der Straße beobachtet. Sie ist gerade neun Monate alt. Dichter Kees Stip erzählte Scheepmaker, 1913, bei den Hundertjahrfeierlichkeiten zur wiedererlangten Unabhängigkeit der Niederlande, sei er erst drei Monate alt gewesen, als er von seiner Wiege mit lachsfarbenen Vorhängen aus die Ehrenpforte in der Hecke der Nachbarn sah. Das sind Details, die augenblicklich die Frage aufwerfen, wie verlässlich eigentlich solche frühen ersten Erinnerungen sind, doch dazu später. Fünf von Scheepmakers Befragten hatten ihre ersten Erinnerungen an ein Erlebnis, das sie hatten, als sie noch kein Jahr alt waren. Dagegen berichten neun von frühsten Erinnerungen an Ereignisse, die erst nach dem siebten Geburtstag lagen. Björn Borg konnte sich auch nach einer halben Stunde Nachdenken an keine frühere Erinnerung erinnern als die, dass er mit sieben Jahren auf der Treppe seiner Schule in Stockholm steht. Bertrand Flury, Cognac-Händler, ging als Siebenjähriger mit seinem Großvater spazieren, als es plötzlich eins hinter die Ohren setzte: Er hatte ihn aus Versehen mit ›tu‹ angesprochen statt mit ›vous‹. Andere haben als erste Erinnerung, was sie an ihrem siebten oder sogar achten Geburtstag geschenkt bekamen.
Menschen, die berichten, dass ihre frühste Erinnerung erst so spät einsetzt, genieren sich meist ein wenig und sind besorgt, sie fragen sich, ob das wohl normal sei. Sie leiten ihre Erinnerung ein mit »Es klingt vielleicht verrückt, aber …« Das Einzige, was man dazu sagen kann, ist, dass sie statistisch gesehen tatsächlich abweichen, dabei aber nicht allein sind: In jeder Untersuchung tauchen solche späten ersten Erinnerungen auf, und zwar bei Personen, die ansonsten vollkommen gesund sind. Scham über späte erste Erinnerungen ist genauso wenig angebracht wie der seltsame Stolz, der bei Menschen zu beobachten ist, die sicher wissen, dass sie bei ihrer ersten Erinnerung gerade mal sieben, vier oder zwei Monate alt waren. In der Scheepmaker-Sammlung sind sie vertreten durch den Dirigenten Claudio Abbado (»Ich erinnere mich noch an die Chaconne von Bach, die mein Vater spielte, als ich zwei Monate alt war«) undJan Wolkers, der berichtet, sich an den Blümchenstoff des Kinderwagendachs zu erinnern, in dem er mit sechs Monaten als Baby lag (»Nicht wahr, Karina, das ist doch meine erste Erinnerung?«).
Anmerkung
Wer in einer etwas größeren Gesellschaft das Thema erste Erinnerungen anschneidet, kann erleben, dass eine Art Wettstreit darüber entsteht, wer die frühste Erinnerung hat. Diejenigen, deren erste Erinnerungen sich zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr bewegen, lauschen mit steigendem Unglauben den Geschichten, an die sich Menschen aus der Zeit vor ihrem zweiten oder ersten Geburtstag erinnern, bis auch diese Kategorie von jemandem übertroffen wird, der sich noch an seine Geburt erinnern kann. Zum Glück erwartet kein vernünftiger Mensch vom Psychologen, dass er in dieser Frage das erlösende Wort sprechen solle, meist endet der Wettstreit übrigens in unterdrückter Heiterkeit, wenn eine schon etwas ältere Frau mit langen grau gescheitelten Haaren zu erzählen beginnt, an was sie sich noch aus ihrem früheren Leben erinnert.
Interessanter ist, dass es zwischen dem Lebensalter und der Art der ersten Erinnerung einen Zusammenhang gibt. In der Einleitung verweist Scheepmaker auf den Journalisten Dieter Zimmer, der bei den gut siebzig
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