Das Buch des Vergessens
Tisch, und wir kämpften um einen Knochen, und an den Geruch dieses Dackels erinnere ich mich noch immer. Aber dieser Geruch vermischt sich noch mit dem weicher Brötchen, die unsere Nachbarn über dem Feuer aufwärmten. Diesen Duft habe ich schon seit meinem zweiten Lebensjahr in der Nase.«
Anmerkung
Die Nachbarn zogen um, als er zweieinhalb war. Auch Geräusche können in den seltenen Fällen, bei denen sie bis zum Gedächtnis durchdringen, starke Eindrücke hinterlassen. Im Nachbargarten des Elternhauses des späteren Bildhauers und Malers Jeroen Henneman hatten Kinder einen Hund an einem Baum festgebunden. Diese Nachbarn hielten auch Bienen, und der Hund wurde von einem Schwarm angegriffen. Henneman sah nichts, zwischen ihnen befand sich eine Hecke, aber das Jaulen des sterbenden Hundes konnte er sehr wohl hören. Die Journalistin Marijn de Koning erinnert sich an das furchterregende Geräusch der V1-Flugbomben. Aber Geräusche vermögen auch ein Gefühl der Vertrautheit und Sicherheit hervorzurufen, wie Schritte auf der Treppe, die nur Mama gehören können. Tastempfindungen sind in der ersten Erinnerung der Schauspielerin Liz Snoyink verewigt – ihr lief derSaft aus einer umfallenden Apfelsinenpresse über die Hände – sowie in der von Gitarrist Julien Coco. Er stammte aus einer Familie mit zehn Kindern. »Meine Mutter war eine große, kräftige Surinamerin, die es fast immer eilig hatte mit all diesen Kindern, und wegen dieser Eile drückte sie mir einmal, als sie mich stillen wollte, plötzlich ihre Brustwarze ins Auge! Seither schrecke ich immer zurück, wenn ich die nackten Brüste einer Frau sehe …«
Anmerkung
Erste Erinnerungen, die mit Tasten, Geschmack, Geruch oder Geräusch zu tun haben, waren im Durchschnitt mit zweieinhalb gesammelt worden, also fast ein Jahr früher als die durchschnittliche erste visuelle Erinnerung. Sie haben auch den fragmentarischen Charakter erster Erinnerungen aus diesem Alter, es sind kurze Momente, keine Zeiträume. Diese frühen, nichtvisuellen Erinnerungen sind noch aus einem weiteren Grund interessant: Die Verwechslung mit einem Foto ist bei diesen Erinnerungen ausgeschlossen. Und weil Geruchs- und Geschmackserinnerungen sich zum größten Teil außerhalb von Sprache abspielen, werden sie ebenso wenig in Geschichten auftauchen, die in einer Familie die Runde machen. Der Geruch frisch verlegten Linoleums, das Gefühl von Saft über den Händen oder der Geschmack eines Bissens Sand ist nicht beschreibbar. Michael Ende sah dies als Beweis an für die Authentizität seiner Erinnerungen an den Geruch des Dackels und der Brötchen.
Schon nach drei, vier Seiten in Die erste Erinnerung fällt einem die überwältigende Zahl kleiner und großer Unfälle auf. Frank Rijkaard fiel als Dreijähriger bei der Nachbarin in eine Wanne mit heißem Waschwasser und kam ins Krankenhaus. Verfolgt von einem Schäferhund, mit kaputtem Gebiss zum Zahnarzt, rückwärts gegen ein Bügeleisen gelaufen und dabei die Wade verbrannt, über Bord gefallen, aus dem Fenster gestürzt, fast ertrunken, eine Glasscherbe im Bein – all diese Unfälle sind zu Dutzenden in ebenso vielen ersten Erinnerungen festgehalten.
Auch Gefahr, tatsächliche oder vermeintliche, findet leicht ihren Weg ins Gedächtnis. Allein schon die Kinderwagen und Buggys, die sich selbstständig gemacht haben, mit dem ängstlichen Erzähler an Bord, sind gut für sicherlich zehn erste Erinnerungen.Viele erste Erinnerungen haben mit plötzlichem Alleinsein zu tun: verirrt, in einem Schrank eingeschlossen, bei wieder zugeklappter Luke auf dem Dachboden zurückgeblieben. Truman Capote erinnerte sich daran, dass ihn das Dienstmädchen, das ihn in den Zoo von St. Louis mitgenommen hatte, auf dem Weg stehen ließ und die Beine in die Hand nahm, als jemand rief, es seien zwei Löwen ausgebrochen.
Die Überrepräsentanz erster Erinnerungen an Angst einflößende Erlebnisse, schon 1929 von dem Moskauer Pädagogen Blonsky bemerkt, findet sich in einer Analyse der Emotionen wieder, welche die Erinnerungen in der Sammlung Scheepmaker begleiten.
Anmerkung
Bei 126 Erinnerungen – eine von drei – gab der Erzähler an, welches Gefühl damit einherging. Im Durchschnitt kamen diese Erinnerungen etwas später im Kinderleben: mit drei Jahren und acht Monaten. Bildhafte Erinnerungen waren im Vergleich zu episodenartigen Erinnerungen in diesem Zusammenhang stark unterrepräsentiert. Die Aufteilung zwischen positiven und negativen Emotionen lag
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