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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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vollkommen ungleichmäßig. Nur bei 17 Prozent der ersten Erinnerungen fühlte sich das Kind seinerzeit froh, stolz oder sicher. Bei 83 Prozent war die Erinnerung mit einem negativen Gefühl verbunden. In zwei von drei Fällen war das Angst: Erinnerungen an eine wegwehende Mütze, ein im Bett umgefallenes Fläschchen Hustensaft, sehen, wie ein Kaninchen gehäutet wird, unversehens auf ein Belgisches Kaltblut gehoben werden, Feuerwerk, Schüsse in der Ferne, ein Albtraum, der erste Schultag. Die Sammlung Scheepmaker umfasst mehr als eine Handvoll von Angst geprägter Erinnerungen an Gesichter, die plötzlich über dem Kinderwagen auftauchen, damit sollte man also vorsichtig sein! Nach Angst und Schrecken sind Kummer oder Wut die am häufigsten auftretenden Gefühle.
    Die Emotionen der ersten Erinnerung sind manchmal über Reaktionen der Eltern mit der Erinnerung verbunden. Für Neeltje Maria Min war es die mit Angst verbundene Erinnerung, die feiernden Menschen vom Arm der Mutter aus zu sehen, weil sie merkte, dass diese der Sache nicht ganz traute und einen Schritt vom Fenster zurücktrat. Kinder erinnern sich nicht an ihre eigene Angst bei einemFeuer, sondern an die Panik ihrer Eltern, nicht an ihren eigenen Kummer, wenn ein Brüderchen stirbt, sondern an das Weinen von Erwachsenen. Der Schauspieler Walter Crommelin erkannte seinen Vater nicht, als dieser nach zwei Jahren aus Indonesien zurückkehrte, am liebsten hätte er einfach weitergespielt; später erinnerte er sich vor allem an den Kummer, den seine Mutter deswegen hatte. Kinder schätzen ihre Welt durch die Augen ihrer Eltern ein.
    Etwa fünfzig Erinnerungen aus der Sammlung Scheepmaker drehen sich um den Krieg, dessen Verlauf man fast anhand dieser ersten Erinnerungen erzählen könnte: Ein Mann erinnert sich an den Besuch bei seinem Vater, der während der Mobilisierung in einem Fort einquartiert war, es gibt Erinnerungen an die Bombardierung von Schiphol und Middelburg, später auf das Haager Stadtviertel Bezuidenhout und die Philipswerke, an die Razzien rund um den Flugplatz Ypenburg, an Unter-den-Tisch-Krabbeln bei Fliegeralarm, an die Misshandlung eines jüdischen Straßenpflasterers, Erinnerungen daran, Untergetauchte auf dem Dachboden schlafen zu sehen, oder an ihre ängstlichen Blicke aus dem Keller nach oben. Die Zweijährige, die Vorbeigehenden arglos erzählte, wie sie hieß, und anschließend schleunigst zu einer anderen Adresse gebracht werden musste. Das Erstaunen über die Lüge der Mutter, als deutsche Soldaten fragten, ob ihr Mann zu Hause sei; Erinnerungen an das Brotklauen bei den Stellungen der V2, die Silberpapierchen, die alliierte Flugzeuge abwarfen, um den deutschen Radar zu stören, an überfliegende englische Bombenwerfer und Lebensmittelbomber, später die Befreiung (fünf erste Erinnerungen an einmarschierende Kanadier), die Stümperei beim Hissen der Flagge, Erinnerungen an abmarschierende Deutsche und noch später, nach dem Krieg, in den Häuserruinen gefundene Spielzeugautos.
    Scheepmaker hat nicht angegeben, wie alt seine Informanten waren, weswegen man nicht nachverfolgen kann, ob erste Erinnerungen, die mit dem Krieg zu tun haben, in seiner Sammlung wirklich überrepräsentiert sind. Aber angenommen, die Erzähler sind irgendwann zwischen 1937 und 1943 geboren, scheint eine Anzahl von fünfzig für dieses Zeitfenster von sechs, sieben Jahren hoch. Und wer im Folgenden die Erfahrungen und Erlebnisse genauerbetrachtet, die in diesen Erinnerungen festgehalten sind, kann eine Unterstützung für eine kürzlich formulierte Theorie über die Ursache all dieses Vergessens erkennen, das erste Erinnerungen umspült.
Nachzügler
    Das größte Rätsel der ersten Erinnerung ist, dass es sich um einen Beginn handelt, dem so viel vorausgeht. Es sind schon einige Lebensjahre vergangen, bevor wir Erinnerungen daran festhalten. »Wir sind Nachzügler in unserer eigenen Geschichte«, schrieb der Philosoph Cornelis Verhoeven.
Anmerkung
Paradoxerweise scheint das Gedächtnis kleiner Kinder im Moment selbst schon prima zu funktionieren. Zweijährige wissen, mit wem sie Spaß gehabt haben und mit wem nicht, sie freuen sich auf den Besuch des einen und verstecken sich vor dem anderen. Sie müssen ihre Erlebnisse behalten haben. Und doch sind diese Erinnerungen ein paar Jahre später verschwunden, nachträglich verloren gegangen.
    Die Theorien darüber, warum das autobiografische Gedächtnis so spät und dann auch noch so holpernd in Gang kommt,

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