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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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Menschen, die er nach ihrer ersten Erinnerung befragt hatte, drei Typen von Erinnerungen unterschieden hatte. Bei einem ›Bild‹ ist die Erinnerung genau das: ein einzelnes Bild, ein Fetzen, manchmal nicht mehr als eine flüchtige sinnliche Wahrnehmung. Bei einer ›Szene‹ ist schon etwas mehr vorhanden: der Ort, die Umgebung, andere Anwesende, es ist die Erinnerung an eine Situation, aber noch immer kurz und fragmentarisch. Bei einer ›Episode‹ ist eine gewisse Entwicklung vorhanden, ein Vorfall, ein Ereignis, manchmal mit dem Kind, das darin selbst handelnd auftritt. Die Grenzen zwischen diesen drei sind natürlich fließend, selbst wenn es leicht ist, typische Beispiele anzuführen, auch in der Scheepmaker-Sammlung. Zur ersten Kategorie gehört das Bild von Kastanien auf einer Zeitung, an das sich Harry Mulisch erinnert. Oder die erste Erinnerung von Simon Vinkenoog: »Ich lag auf dem Rücken und sah, wie die Sonne an der Decke spielte.«
Anmerkung
Szenenbeispiele sind die plötzliche Ohrfeige wegen des Duzens, auf die Schultern gehoben werden, um einen Umzug besser sehen zu können,oder im Zirkus plötzlich einen Elefantenfuß neben sich zu entdecken (Schriftstellerin Doeschka Meijsing). Ein Beispiel für eine Episode ist die ängstliche Erinnerung des Griechen Sakis Ioannides an eine Schikane seiner Schwestern. »Ich lag im Bett, sie gaben mir einen Klaps auf den Kopf und taten so, als würden sie ihn aufsägen, danach holten sie (wie sie sagten) das Stroh aus meinem Kopf, ohne dieses Stroh könne ich nicht mehr aufrecht stehen bleiben, sagten sie mir, und anschließend hopsten sie so heftig auf dem Bett herum, dass ich tatsächlich immer wieder umfiel, ich suchte unterdessen unter den Kissen nach dem Stroh, und wenn ich schließlich laut genug weinte, stopften sie mir das Stroh wieder in den Kopf und hörten mit dem Springen auf, sodass ich zum Glück wieder aufrecht stehen bleiben konnte.«
Anmerkung
    In älteren Untersuchungen – auch in der von Zimmer – sind frühere Erinnerungen oft Bilder und späte Erinnerungen meist Episoden, die szeneartigen ersten Erinnerungen befinden sich dazwischen. Scheepmaker schrieb, er fände diese Verhältnisse in seiner eigenen Sammlung so nicht wieder, und verwies auf Borgs bildartige Erinnerungsfetzen in seinem siebten Lebensjahr. Aber wenn man die 263 Erinnerungen, die zu datieren sind, in Bilder, Szenen und Episoden ordnet und anschließend das Durchschnittsalter ausrechnet, erhält man genau die gleichen Relationen. Bilder, die für 17 Prozent aller datierbaren Erinnerungen stehen, gehören zu einem Alter von zwei Jahren und zehn Monaten, Szenen (53 Prozent) zu drei Jahren und zwei Monaten und Episoden (30 Prozent) zu vier Jahren und drei Monaten. Der Unterschied zwischen Bildern und Szenen beträgt also lediglich vier Monate, aber der zwischen Szenen und Episoden fast dreizehn Monate. Die ersten Erinnerungen aus der Zeit vor dem Ende des ersten Lebensjahres sind überwiegend Bilder, Episoden kommen überhaupt nicht vor. Von den neun ersten Erinnerungen nach dem siebten Geburtstag ist die von Borg eigentlich die einzige, die als Bild beschrieben werden kann, bei den anderen handelt es sich überwiegend um Episoden. Dieser Zusammenhang zwischen Alter und Erinnerungstyp wird noch stärker sein, als unsere Zählungen zeigen, denn bei Erinnerungen, die man als Bilder charakterisieren kann, fehlte häufiger eine Altersangabe als bei Szenen und Episoden, wahrscheinlich, weil man sich etwas später im Rückblick auf das Kinderleben an Zeitmarkierungen wie den Beginn des Kindergartens oder der Grundschule orientieren kann.
    So gut wie alle 350 ersten Erinnerungen werden als visuelle Vorstellung beschrieben. Es gibt nur sechzehn Erinnerungen, die nicht mit visuellen Eindrücken verbunden sind, gleich verteilt über die restlichen Sinnesorgane. Diese Anzahl ist zu gering, um statistisch verlässliche Schlussfolgerungen zu ziehen, aber in dieser Sammlung lieferten Geschmackserlebnisse überwiegend unangenehme Erinnerungen, wie von einem Bissen Sand, einer ekligen Banane oder Steinkohleproben, während Gerüche mit einem Gefühl der Vertrautheit verbunden waren. Schriftstellerin Monika van Paemel war als Baby einen Augenblick zu Welpen in einen Korb gelegt worden: »Ich rieche sie noch immer und spüre das Fiepen ihrer Hundekörper.«
Anmerkung
Der Schriftsteller Michael Ende erinnert sich an den Geruch des Nachbardackels: »Dann hockte ich mit diesem Dackel unter dem

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