Das Buch des Vergessens
verschwanden, in Knickerbockern mit Troddeln, manchmal haben sie ihre Ausrüstung noch bei sich, rührend fortschrittliche Gegenstände aus den Zwanzigerjahren. Wenn sich nach der Identifizierung herausstellt, dass es noch lebende Angehörige gibt, sind es manchmal Enkel, die endlich ihren dreißigjährigen Opa begraben können.
Bei manchen Dingen ist einem intuitiv bewusst: Das muss eine Metapher für etwas sein. Aber für was?
Der Schriftsteller Rudy Kousbroek sah in Gletscherleichen einmal eine Metapher für das, was Zeit mit dem Ansehen machen kann. Von einst – in ihrer Zeit – großen Namen kann ein halbes Jahrhundert später manchmal nur wenig übrig sein; andere, in ihrer Zeit kaum bemerkt, sind gewachsen und werden nun aufgrund ihrer Größe verehrt. Die Zeit hämmert und walzt und liefert Gestalten, die manchmal bis zur Unkenntlichkeit verändert sind.
Macht die Zeit das auch mit unseren Erinnerungen ? Verhält sich unser Gedächtnis wie ein Gletscher, der eine Erinnerung auswalzt und eine andere zu einem Zwerg plättet?
In der Regel nicht. Wenn uns unser Gedächtnis wirklich systematisch betrügen würde, hätten wir gar kein Gedächtnis. Es hätte sich in unserer Evolutionsgeschichte gar nicht entwickeln können, wenn es nicht in groben Zügen ein verlässliches Verhältnis zur Wirklichkeit hätte. Die Evolution hat wenig Geduld mit Firlefanz.
Das Problem steckt natürlich in dem Begriff ›in der Regel‹. Das heißt, Ausnahmen sind möglich. Und nicht die Ausnahmen an sich sind das Problem, sondern die Tatsache, dass man nicht weiß, ob im entsprechenden Fall von einer Ausnahme die Rede ist. Dass einen das Gedächtnis sehr wohl ab und zu betrügt, tastet auch die Erinnerungen an, für die man die Hand ins Feuer legen würde – etwas, das man sich übrigens mit steigendem Alter verkneift. Jeder sensible Beobachter seines eigenen Gedächtnisses ist sich Erinnerungen bewusst, die sich unter dem Druck dessen, was später darübergestapelt wurde, verändert haben.
Aber man kann auch eine entgegengesetzte Eingebung dazu haben, was die Zeit mit Erinnerungen anstellt. Das Verstreichen der Jahre soll einen geradezu schützenden Effekt für Erinnerungen haben, sie zudecken, vor Verzeichnung hüten. Die Metaphern, mit denen diese Eingebung ausgedrückt wird, verweisen auf Tiefe, Begraben, Deckschichten. 1902 kam Freud mit seinem Bruder Alexander nach Pompeji und machte dort einen Spaziergang durch seine eigene Metapher.
Anmerkung
An verschiedenen Stellen in seinem Werk hatte er das Aufspüren einer traumatischen Erinnerung mit den Ausgrabungen von Pompeji verglichen. Die Stadt, die im Jahr 1979 unter einer fünf Meter dicken Ascheschicht begraben worden war, wurde in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts behutsam freigelegt. Erst dann, an die Oberfläche gebracht, konnte die natürliche Verwitterung darauf einwirken. Die tatsächliche Vernichtung Pompejis, schrieb Freud, habe erst eingesetzt, als diese schützenden Schichten verschwunden waren. Was der Patient während der Psychoanalyse aus der Tiefe zum Vorschein bringe, sei die intakte Erinnerung, authentisch, unverändert, die ganze Zeit abgeschirmt von Deckerinnerungen. Erinnerungen, die ins Unbewusste gewandert seien, verdankten ihr Überleben gerade der Tatsache, dass sie begraben wurden.
In Die Traumdeutung hat Freud mit einer noch radikaleren Theorie geflirtet. In Träumen erscheinen manchmal Tagesreste, Erinnerungen an irgendwelche trivialen Ereignisse des Lebens, die offensichtlich doch festgehalten wurden, auch wenn wir ihnen keine Aufmerksamkeit gewidmet haben. Beweist das nicht, dass nichts von all dem, was wir je getan oder erlebt haben, ganz vergessen wird? Suggeriert das nicht ein absolutes Gedächtnis? Freud zitiert zur Bestätigung seinen deutschen Kollegen Scholz zum Traumgedächtnis, dass »nichts, was wir geistig einmal besessen, ganz und gar verloren gehen kann«.
Anmerkung
Freud war mit dieser Ansicht nicht allein. Viele Zeitgenossen, die sich mit den Wissenschaften vom Gedächtnis beschäftigten – Ärzte, Psychologen, Neurologen, Psychiater –, huldigten der Auffassung, jede Wahrnehmung, jede sinnliche Erfahrung, aber auch jeder Gedanke, jede Träumerei oder jeder Traum hinterlasse eine Spur im Gehirn, die nicht mehr gelöscht werden könne. Draper, der amerikanische Physiologe und Pionierder Fotografie, schrieb schon 1856, in den Ganglien, den Zellen, die die Reize aus anderen Zellen bündelten, sei eine
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