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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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verschwinden. Traumatische Erinnerungen mussten mit viel Mühe in ihre ursprüngliche Form gebracht werden, um als Beweismaterial für die Verfolgung der Verantwortlichen zu dienen oder, im Gegenteil, ›verblasst‹ und ›vager‹ wieder gespeichert zu werden. Wenn traumatische Erinnerungen im Bewusstsein erneut auftauchten, hatten sie einen symbolischen Charakter oder waren geradezu schmerzhaft realistisch. Ab und zu erscheinen in der psychologischen oder psychiatrischen Literatur Artikel, die von ihren Autoren erstaunt mit ›What people believe about memory despite the research evidence‹ betitelt werden.
Anmerkung
Man kann es ›den Leuten‹ nicht übel nehmen. Dieser ›Beweis‹ unterscheidet je nach Praxis, ebenso wie die Kriterien, nach denen entschieden wird, was als ›evidence‹ gelten soll.
    Aber ganz gleich, wie Trauma, Verdrängen und Vergessen in all diesen wissenschaftlichen und klinischen Praktiken untereinander auch angeordnet waren – während der gesamten Zeit blieb die Unverzichtbarkeit des Therapeuten garantiert. In der Psychoanalyse war der Patient auf den Analytiker angewiesen, weil das verdrängte Material versuchte, sich maskiert am Zensor vorbeizuschleichen. Diese Versuche konnten nur von jemandem gedeutet werden, der in der Geheimsprache des Unbewussten zu Hause war. Ohne Analytiker keine Erkenntnis des Traumas, ohne ihn keine Hoffnung auf Genesung. Dieses Verhältnis zwischen Therapeut und Patient blieb bei wiedergefundenen Erinnerungen intakt. Der Patient selbst hatteden Missbrauch vergessen, und der Therapeut half bei der allmählichen Genesung. Genau wie bei Dora erforderte dies einen mühsamen Prozess der Rekonstruktion, weil das begrabene Material in Form von Scherben und Fragmenten zutage trat. Beim posttraumatischen Stresssyndrom braucht sich der Therapeut nicht in die Symbolsprache des Unbewussten zu vertiefen oder über archäologische Fähigkeiten zu verfügen. Es muss nichts gedeutet oder ergänzt werden: Die Erinnerung drängt sich in aller Schärfe und Vollständigkeit auf. Diesmal ist der Therapeut unverzichtbar, weil er über die Technik verfügt, die Erinnerung in einer relativ unschädlichen Form wieder ins Gedächtnis zurückkehren zu lassen. Beim üblicherweise mäandernden Verlauf von Erkenntnissen, der Wissenschaften wie Psychologie und Psychiatrie kennzeichnet, ist es angenehm, hin und wieder auch einmal eine schöne gerade Linie zu sehen.

Der Mythos vom absoluten Gedächtnis
    Gletscher können Körper von Menschen, die in den Bergen verunglücken, sehr lange behalten. Bergsteiger, die den Aufstieg an einem einzigen Morgen geschafft haben, brauchen manchmal siebzig, achtzig Jahre für den Abstieg. Irgendwann im Spätsommer, beispielsweise des Jahres 1927, könnte jemand bis auf vier- oder fünftausend Meter Höhe geklettert sein, sich dann kurz hingesetzt haben, vielleicht, um die Aussicht zu genießen, etwas zu essen oder sich auszuruhen. Danach muss etwas schiefgegangen sein. Er ist eingedöst, eingeschlafen, erfroren. Gegen Abend begann es zu schneien. Der sitzende Mann wird erst noch einige Zeit aus dem Schnee herausgeragt haben. Aber dann reichte ihm der Schnee bis zur Taille, zu den Schultern, zum Kopf, er wurde bedeckt und verschwand. Vielleicht hat es noch sommerliche Tage gegeben, die ihn im schmelzenden Schnee wieder sichtbar hätten machen können, aber ein paar Monate später war es wirklich zu spät, der Winter kam, und der Mann wurde von einer Schicht aus zwei, dann sieben, vielleicht bis zu zehn Metern Schnee bedeckt. Danach begann der lange Abstieg.
    Ein Gletscher ist im Grunde ein Fluss. Sollte man einen Gletscher im Zeitraffer filmen, sähe man es: Wie er mäandert, Buchten ausschleift, sich in Spalten presst und über Flanken fließt. Körper, die in Gletschern gelandet sind, werden manchmal vorübergehend in einer Bucht abgelegt und zehn Jahre später doch noch nach unten mitgenommen – dies alles jedoch in einem eisigen, gefrorenen Tempo.
    Aber wie kommen diese Körper unten an? Wie sehen sie am Fuße des Gletschers aus?
    Das hängt davon ab, was unterwegs so alles passiert. Der sitzende Mann kann auf seiner langen Reise durch den Druck der Eisschicht über seinem Kopf zu einem Zwerg zusammengepresst worden sein. Aber jemand, der durch einen Spalt auf dem Boden des Gletschersgelandet war, kann an den Felsen zu einem Riesen ausgewalzt worden sein. Und wieder anderen scheint gar nichts passiert zu sein: Sie tauchen unten auf, wie sie oben

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