Das Buch des Vergessens
prüfen konnten. Die Autorität war ihnen aus den Händen genommen worden. Sie befanden sich ihrem Therapeuten gegenüber in derselben Position wie Dora, als sie sagte, sie könne sich nicht erinnern, jemals masturbiert zu haben: Ihr ›Nein‹ sei eigentlich ein ›Ja‹, man beachte nur mal ihre Finger. Auch die Vorstellung, Erinnerungen könnten, gerade weil sie verdrängt wurden, Unheil anrichten, haben Therapien für verdrängte Erinnerungen mit der Psychoanalyse gemein. Aus ihrer vorübergehenden Unsichtbarkeit im Unbewussten verursachen sie Probleme, die nur allzu sichtbar sind: Essstörungen wie Lauras Bulimie, Halsbeschwerden wie bei Dora. Ihr Ausdruck ist somatisch und symbolisch, was die Deutung durch einen Therapeuten erfordert, vom Patienten selbst kann man nicht erwarten, dass er die Sprache des Unbewussten beherrscht.
Aber als wichtigste Übereinstimmung gilt, was man in beiden Bewegungen für den wirksamen Bestandteil der Therapie hielt. Für Freud beruhte der heilende Effekt der Psychoanalyse auf der Wiederherstellung der Erinnerung, dem ›Beseitigen der Gedächtnisstörung‹. Er versuchte, die belastenden Emotionen, die mit dem verdrängten Material verbunden waren, zu beseitigen oder abzuschwächen und damit Erinnerungen ins Bewusste zurückzuholen. Dort sollten sie sich im Anschluss abschleifen. Die natürliche Verwitterung der Zeit habe seiner Ansicht nach nur Zugriff auf Erinnerungen, die wieder zum Vorschein geholt worden seien. Im Unbewussten blieben sie intakt und gefährlich. Das Gleiche gelte für Frauen mit verdrängten Erinnerungen an Missbrauch. Sie hätten nur Chancen auf Gesundung, wenn sie dem Trauma nachträglich ins Auge sähen und gemeinsam mit dem Therapeuten die verdächtige Lücke im Gedächtnis wieder gefüllt hätten. Der Weg zur Genesung führe vom Unbewussten zum Bewussten, von verborgen zu öffentlich, von fragmentarisch zu vollständig.
Genau an dieser Stelle ist der Kontrast zu EMDR am stärksten. Für Patienten, die an einem posttraumatischen Stresssymptom leiden und sich zur Therapie anmelden, ist das Problem ja gerade, dass sich die Erinnerung nicht verdrängen lässt, geschweige denn vergessen wird. Das Wiedererleben und die Flashbacks, häufig noch Jahre später, behalten ihre schmerzliche Lebendigkeit. Viele dieser Patienten müssen das Gefühl gehabt haben, dass es vielleicht gar nicht notwendig wäre, sich in Therapie zu begeben, wenn es so etwas wie Verdrängen gäbe. Jetzt soll EMDR die scharfen Kanten der Erinnerungen abschleifen und sie den Patienten danach so zurückgeben, dass sie nicht mehr davon gequält werden. Flashbacks und Wiedererleben bei Patienten mit posttraumatischen Stresssymptomen haben auch nicht den Symbolcharakter, den verdrängte Erinnerungen aufweisen, wenn diese heimlich, wie maskiert, ins Bewusstsein zurückkehren. Das Wiedererleben bei einer posttraumatischen Störung ist rau und realistisch und bedarf keiner Deutungen.
Freud hatte Dora elf Wochen lang sechs Tage pro Woche immer wieder eine Stunde in der Analyse gehabt, als sie ihm plötzlich den Laufpass gab; er hatte das Gefühl, die Analyse habe noch nicht einmal begonnen. Er hatte das Schloss aufspringen lassen, aber jetzt musste das verdrängte Material sorgfältig wieder ins Bewusstsein gebracht werden. Der Umgang zwischen Analytiker und Analysand wurde – und wird – in Jahren gemessen. Eine Behandlung mit EMDR wird in Stunden gezählt, verteilt über ein paar Sitzungen. Freud seinerseits hätte den Kopf darüber geschüttelt, wie man wohl in dieser kurzen Zeit mit zwei pendelnden Fingern eine traumatische Erinnerung zu einer Erinnerung transformieren konnte, aus der die intensiven negativen Emotionen entfernt worden waren. Inseiner eigenen Theorie waren diese Emotionen gerade die Ursache des Verdrängens, und es war ein zeitraubender Prozess, die Erinnerungen aus dem Unbewussten herauszulocken. Mit der in den Niederlanden kürzlich erfolgten Streichung der Psychoanalyse aus den zu vergütenden Therapien ist das jahrelange Duett aus Introspektion und Deutung im Umgang mit Trauma durch eine schnelle Lösung ersetzt worden.
So sind Trauma, Verdrängen und Vergessen innerhalb des letzten Jahrhunderts in unterschiedlichste Relationen zueinander gebracht worden. Ein Trauma konnte Ursache von Verdrängen sein, aber auch von der Unmöglichkeit, zu verdrängen. Belastende Erinnerungen konnten im Unbewussten landen, sich aber auch hartnäckig weigern, aus dem Bewussten zu
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