Das Buch des Vergessens
vollständige und dauerhafte Spur unserer Erfahrung gespeichert.
Anmerkung
Diese Spuren blieben latent vorhanden und ähnelten einer fotografischen Platte, die zwar belichtet, aber noch nicht entwickelt sei. Das Gedächtnis war für ihn eine ›stille Galerie‹, an deren Wänden sich Silhouetten all dessen befänden, was wir je getan hätten. Tagsüber seien diese inneren Bilder von den starken Sinneseindrücken des wachen Bewusstseins verdeckt. Aber beim Träumen, in einem Fieberdelirium und ganz sicher auch während des feierlichen Moments des Sterbens kehre sich der Geist nach innen und würden alle Bilder sichtbar.
Anmerkung
Mittels einer anderen Metapher behauptete Sergej Korsakow dasselbe. Nicht einmal die schwere Gedächtnisstörung, die seinen Namen trägt, könne die ursprünglichen Spuren löschen: Im Gedächtnis des Patienten »dauert die Vibration aller Saiten an, die jemals geschwungen haben, es dauert an der leise Nachklang all dessen, was er je gedacht«.
Anmerkung
Freud zitierte als Unterstützung in Die Traumdeutung den belgischen Psychologen und Philosophen Delboeuf, der 1885 schrieb, jeder Eindruck, auch der unbedeutendste, hinterlasse eine unvergängliche Spur, die immerfort wieder auftauchen könne.
Anmerkung
Aus der Literatur dieser Zeit könnte man noch jede Menge ähnliche Zitate sammeln. Die Vorstellung des absoluten Gedächtnisses ist schon sehr alt.
Und noch quicklebendig. 1980 legten die Gedächtnispsychologen Loftus und Loftus ihren Versuchspersonen zwei Behauptungen über das Gedächtnis vor:
Alles, was wir erfahren, wird dauerhaft im Gedächtnis gespeichert, auch wenn einige Einzelheiten manchmal nicht zugänglich sind. Mit Hypnose oder anderen Spezialtechniken können die unzugänglichen Details wieder zurückgeholt werden.
Manche Einzelheiten dessen, was wir erleben, verschwinden definitiv aus dem Gedächtnis. Solche Details sind nie durch Hypnose oder andere Spezialtechniken wieder zurückholbar, weil diese Einzelheiten schlichtweg verschwunden sind.
Anmerkung
Der weitaus größte Teil der Befragten gab an, davon überzeugt zu sein, alles, was wir erlebten, bleibe dauerhaft gespeichert. Was wir ›vergessen‹ nennen, sei in Wirklichkeit das Unvermögen, diese Spuren zu erreichen. Alles sei noch da. Auffällig war, dass unter den Befragten, die Psychologie studiert hatten oder noch dabei waren, 84 Prozent die erste Behauptung unterschrieben, während dies bei den Nicht-Psychologen 69 Prozent waren. In der Begründung ihrer Antwort verwiesen die Psychologen manchmal auf Hypnose, hin und wieder auf Psychoanalyse, aber vor allem auf die Experimente des kanadischen Neurologen Wilder Penfield, des Mannes, der mehr als jeder andere zu der Theorie beigetragen hat, unser Gehirn enthielte ein komplettes Register all dessen, was wir erlebt haben. Was für Draper, Freud, Korsakow und all die anderen Gelehrten des neunzehnten Jahrhunderts aufgrund der Mittel ihrer Zeit nicht viel mehr als eine Vermutung war, erhielt dank Penfield den Status einer experimentell bestätigten Hypothese.
Verbrannter Toast
In History by the Minute, einer Serie einminütiger Kurzfilme über das kanadische Erbgut, gibt es auch eine Sendung über Penfield.
Anmerkung
Die Geschichte beginnt mit einer häuslichen Szene. Montreal, eines Abends 1934. Ein Mann sitzt am Küchentisch und liest Zeitung, seine Frau steht neben ihm, einen Teller in den Händen. Sie sagt, sie rieche verbrannten Toast. Ihr Mann sagt zerstreut, er rieche nichts. Dann schreckt er auf – der Teller ist in Scherben zersprungen. Seine Frau kann er gerade noch auffangen: Sie erleidet einen heftigen epileptischen Anfall. In der nächsten Einstellung liegt sie auf dem OP – Tisch. Die Kamera zoomt auf den Chirurgen. Vor sich hat er das teilweise offen gelegte Gehirn, in der Hand eine Elektrode, mit der er die Hirnoberfläche behutsam stupst. »Immer, wenn sie einen Anfall bekommt«, sagt er zu seinem Operationsteam, »riecht sie, dass etwas anbrennt. Wenn wir jetzt diesen Geruch aufrufen könnten, indem wir die Oberfläche des Gehirns abtasten, könnten wir dem Ursprung der Anfälle auf die Spur kommen.«
Dann folgt ein schockierendes Bild. Die Kamera schwenkt etwas tiefer. Plötzlich schauen wir der Frau direkt ins Gesicht: Sie ist bei Bewusstsein. Zwischen ihrem Gesicht und ihrem freigelegten Gehirn hat man ein Tuch gespannt.
»Frau Gold«, fragt der Chirurg, »spüren Sie etwas?«
»Ich sehe die schönsten Lichter!«
Er verschiebt die
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