Das Buch des Vergessens
beherrschen war.
Die Empfindungen des Patienten variierten, je nachdem, welcher Teil des Gehirns berührt wurde. Eine Reizung der motorischen Rinde konnte zu Prickeln oder Zucken von Fingern oder Zehen führen, bei Reizung der sensorischen Rinde konnte der Patient Blitze, Streifen oder Sternchen sehen, er hörte Summen, Klicken oder Pfeifen, roch seltsame Gerüche oder hatte das Gefühl, man tropfe ihm kaltes Wasser auf die Hand. Penfield ließ die Reaktionen des Patienten von einem Stenografen notieren und markierte die berührten Stellen mit winzigen nummerierten Zetteln, die er auf die Hirnhaut legte. Danach wurde ein Foto gemacht. Wenn der Reiz einen epileptischen Anfall hervorrief oder Empfindungen, die dem Anfall immer vorausgingen, konnte die eigentliche Operation beginnen, was meistens bedeutete, dass an dieser Stelle ein Teil des Hirngewebes entfernt wurde. Penfield war ein Anhänger der ›no brain is better than bad brain‹-Doktrin.
Anfang der Fünfzigerjahre hatte Penfield schon Hunderte vonOperationen durchgeführt. Seine sorgfältig dokumentierten Streifzüge über diese epileptischen Gehirne fanden ihren Weg in Standardwerke über die funktionelle Anatomie des menschlichen Gehirns und unterschiedliche Epilepsietypen.
Anmerkung
Sein Beitrag zur Gehirntopografie ist kaum zu überschätzen. Bekannt wurde ›der Penfield-Homunculus‹, seine Zeichnung einer menschlichen Gestalt, aber mit Proportionen, die mit dem Umfang ihrer Repräsentanz im Gehirn übereinstimmen: enorme Lippen, eine große Zunge, kurze Beine, dünne Arme mit riesigen Händen. Vieles dessen, was an Wissen über die Repräsentanz von Funktionen vor dem Aufkommen bildformender Techniken gesammelt wurde, ist Penfields geduldiger Spurensuche auf der Gehirnrinde zu verdanken (und seinen Patienten, nicht zu vergessen).
Schon in den Vierzigerjahren hatte Penfield einen gefestigten Ruf in der operativen Behandlung von Epilepsie. Aber seinen Ruf außerhalb der Neurochirurgie verdankte er nicht seiner klinischen Arbeit. Neben den Artikeln und Monografien über Epilepsie und Gehirntopografie gab es noch eine zweite Flut von Veröffentlichungen, und darin berichtete er von Befunden, die ein viel größeres Publikum als nur Neurologen in ihren Bann zog.
Tonbandgerät
Reizungen der sensorischen und motorischen Rinde hatten Reaktionen hervorgerufen, die angesichts der Kenntnis über die neurologische Repräsentanz von Funktionen zu erwarten waren. Aber die Reizung der Schläfenlappen hatte bei manchen Patienten merkwürdige Reaktionen ausgelöst. Sie berichteten, sie hätten das Gefühl gehabt, diese Situation schon einmal genau so erlebt zu haben, oder im Gegenteil, alles scheine fremd und unwirklich, wie in einem Traum. Manche sahen auf einmal mit halluzinierender Klarheit eine Szene aus ihrer Jugend vor sich oder hörten Stimmen. Wieder andere – oder dieselben Patienten, aber jetzt an einer anderen Stelle berührt – hörten ein Lied, so deutlich, dass sie es mitsingen konnten. Von den Hunderten von Berichten, die Penfieldüber die Reizung der Schläfenlappen veröffentlichte, soll hier der Fall M. M. als Beispiel dienen. Bei M. M. handelte es sich um eine sechsundzwanzigjährige Frau mit Epilepsie, die nicht mehr auf Medikamente reagierte.
Anmerkung
Ihre Anfälle begannen mit einem Déjà-vu-Erlebnis, manchmal gefolgt von einem Flashback, in dem sie Teile ihres Lebens aufs Neue zu erleben schien, wie etwa auf dem Bahnsteig sitzen und auf den Zug warten. Sie unterzog sich einer Operation nach dem Montrealverfahren, und die berührten Stellen wurden fotografiert.
Die Stimulation bei Stelle 11 löste eine auditive Erinnerung aus: »Ja, ich glaube, dass ich hörte, wie eine Mutter ihren Sohn rief. Es schien Jahre her zu sein. Jemand aus dem Viertel, in dem ich wohne.«
Anmerkung
Als wenig später dieselbe Stelle gereizt wurde, hörte sie erneut bekannte Laute, dieselbe rufende Frau, aber jetzt nicht in ihrem Viertel, sondern in einer Holzhandlung. Sie fügte ein wenig erstaunt hinzu, sie sei »selten oder nie in einer Holzhandlung gewesen.« Nach Reizung von Nummer 13 sagte sie: »Ja, ich höre Stimmen. Es ist mitten in der Nacht, so um Karneval – irgendein reisender Zirkus.« Und als die Elektrode weggenommen wurde: »Ich sah eine ganze Menge von diesen großen Wagen, in denen sie Tiere transportieren.«
Anmerkung
Bei 15 bekam sie das Gefühl, diese Operation schon einmal erlebt zu haben, und wusste genau, was im nächsten Moment
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