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Das Buch des Vergessens

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Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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geschehen würde. Die Reizung von Nummer 17 brachte sie in ein Büro, sie sah die Schreibtische und einen Mann, der sich auf einen der Schreibtische stützte, einen Bleistift in der Hand. Als Penfield ankündigte, er werde eine Stelle berühren, dies aber nicht tat, gab es keine Antwort. Reizung ohne Ankündigung führte jedoch zu einer Reaktion. Alles, was sie ›sah‹ und ›hörte‹, war ihr irgendwie vertraut.
    Die freigelegte rechte Hirnhälfte der Patientin M.   M. Die Stellen, an denen Penfield das Gehirn mit seiner Elektrode stimulierte, sind mit nummerierten Zettelchen markiert.
    Dass Epilepsie mit einem Herd im Schläfenlappen Déjà-vu-Erlebnisse und traumhaftes Erleben hervorrufen kann, hatte im neunzehnten Jahrhundert schon der britische Neurologe Hughlings Jackson festgestellt, der dafür den Begriff ›dreamy state‹ einführte. Aber dass die Berührung mit einer Elektrode auch Gedächtnisspuren zu aktivieren schien, war eine aufsehenerregende Entdeckung.Diese Erinnerungen kamen dem Patienten vor, als seien sie viel klarer und detaillierter als normale Erinnerungen. Es war – wenn es um die Geräusche ging –, als würde er Aufnahmen eines inneren Tonbandgeräts anhören, das all diese Zeit ohne Wissen des Patienten mitgelaufen war und alles festgehalten hatte, was dieser jemals gehört hatte. Es fühlte sich an wie eine ›vergessene Erinnerung‹: ein Gesprächsfetzen, die Klänge spielender Kinder draußen, ein Zug in der Ferne, Geräusche, die fast sofort wieder vergessen waren. Die Erinnerungen standen dem Patienten auf einmal so deutlich vor dem geistigen Auge, dass er das Gefühl hatte, sie im Heute zu erleben. Häufig wurde ihm erst im Nachgespräch klar, dass es sich um ein Fragment aus der Vergangenheit handelte.
    In seiner Interpretation dieser Befunde folgte Penfield dem Erleben seiner Patienten. Die Schläfenlappen sollten den Bodensatz all dessen enthalten, was jemals, so kurz und flüchtig es auch immer war, die Aufmerksamkeit erregt hatte, alles was je gesehen, gehört, gedacht, geträumt, fantasiert worden war, ein unermessliches Archiv von Eindrücken und Erlebnissen. Mit einer Anleihe bei einem Begriff von William James erklärte Penfield in Science, der ›Bewusstseinsstrom‹ hinterlasse auf seinem Weg eine neuronale Spur, die später elektrisch reaktiviert werden könne.
Anmerkung
Streng genommenwar seine Theorie noch radikaler. Es kam vor, dass er in einem bestimmten Hirngebiet eine Erinnerung aktiviert hatte und später ausgerechnet dieses Gebiet wegschneiden musste. Nach der Operation war diese Erinnerung nicht verschwunden. Das sei nur durch die Annahme zu erklären, der gegenüberliegende Schläfenlappen speichere ebenfalls alles. Unser Gehirn habe eine doppelte Buchführung, wir besäßen nicht ein absolutes Gedächtnis, sondern zwei. Mit den Metaphern seiner Zeit ließ Penfield wissen, unser Gehirn speichere Erfahrungen ›like a wire-recorder or a tape-recorder‹.
Anmerkung
    Penfield hat jedoch nicht behauptet, dass die elektrisch zu aktivierenden Gedächtnisspuren mit normalen, natürlichen Erinnerungen übereinstimmen, die willkürlich oder unwillkürlich im Bewusstsein auftauchen. Die Gedächtnisspuren im Schläfenlappen seien die Repräsentanz dessen, was einst in dieser Form erfahren wurde, und die erneute Aktivierung dieser Spuren verlaufe in ›real time‹, wie man es heute nennen würde.
    Ein einmal gehörtes Lied werde im ursprünglichen Tempo erinnert. Normale Erinnerungen hätten einen viel globaleren Charakter, seien in der Zeit verkürzt, wiesen Lücken auf, fügten gleichartige Erinnerungen zusammen, ihnen fehle der detaillierte Charakter der getreuen Kopie. Für ein gut funktionierendes Gedächtnis dürften gerade nicht die Tonbandspuren ablaufen. Diese beiden absoluten Gedächtnisse links und rechts lieferten höchstens Fetzen und Fragmenten für normale Erinnerungen, und das genau sei das praktischste Arrangement.
    Penfield legte sich auch bezüglich der exakten Lokalisierung der Gedächtnisspuren nicht fest. Er war nicht sicher, ob sie sich an der Oberfläche des Schläfenlappens befanden und ob Reizung sie aktivierte, als würden sie von der Elektrode ›eingeschaltet‹, oder ob die Reizung Strukturen an der Oberfläche gerade ›aus‹schaltete, sodass tiefer gelegene Kreise, die normalerweise blockiert blieben, aktiviert wurden. Dass durch die Elektrode irgendwo im Schläfenlappen ein Stückchen Band abgespielt wurde, stand für ihn fest, aber

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