Das Buch des Vergessens
Einheiten gespeichert werden.«
Anmerkung
Mit Penfields Technik könne das Gedächtnis direkt manipuliert werden: »Das ist Proust auf dem Operationstisch, eine elektrische recherche du temps perdu. Aber ist dieses Unbewusste denn perdu ? Es wird ausgesprochen wichtig sein, dass Dr. Penfield und seine Kollegen feststellen, wie häufig die zurückgeholten Erfahrungen vergessene (verdrängte) Erinnerungen betrafen.«
Anmerkung
Normale Erinnerungen, ohne elektrische Stimulation aufgerufen, ähneln den ›Deckerinnerungen‹ Freuds. Ein Psychoanalytiker muss Wochen, Monate oder Jahre hart arbeiten, um mit Hypnose, Traumanalyse und freier Assoziation die Schicht von Deckerinnerungen zu durchdringen. Dem Neurochirurgen gelingt dies innerhalb weniger Minuten. Kubie war nun gänzlich auf dem experimentellen Weg: Sollten nicht schon vor der Operation Träume und freie Assoziationen dieses Patienten gesammelt werden, damit sie mit dem verglichen werden könnten, was auf dem Operationstisch zutage kam? Und wäre es nicht interessant, neurotische Symptome und Träume vor und nach der Operation miteinander zu vergleichen? Vielleicht könne man auf diese Weise in Erfahrung bringen, ob das Wiedererleben der Vergangenheit durch elektrische Stimulation ›emotionale Sturmzentren‹ beeinflusse?
Anmerkung
Mit Komplimenten für Penfields bemerkenswerten Beitrag zur ›Neurophysiologie des Unbewussten und des Verdrängens‹ rundete Kubie seinen langen Monolog ab.
Anmerkung
Es ist fraglich, ob Penfield die Komplimente zu schätzen wusste. Nach Kubie kamen Penfields Neurologenkollegen zu Wort, und er reagierte nur auf ihre Kommentare. Auf den begeisterten Beitrag Kubies ging er nicht ein. Aber für Kubie war der Gedanke, in Montreal sei vielleicht doch die neurologische Mechanik hinter dem Unbewussten entdeckt worden, zu verlockend, um ihn wieder fallen zu lassen. War dies nicht der historische Moment, in dem die archäologischen Metaphern über begrabene Erinnerungen gegen die Realität neurologischer Prozesse in einem klar beschriebenen Teil des Schläfenlappens eingetauscht werden konnten? Kubie fragte Penfield, ob er bei einigen Operationen anwesend sein dürfe. Er durfte. Nach gründlicher steriler Säuberung erschien der Psychoanalytiker in OP – Kleidung und mit einem Diktiergerät bewaffnet in Penfields Theater, um alles aufzunehmen, was der Patient zu erzählen hatte. Das Ergebnis präsentierte er zwei Jahre später in einem langenArtikel darüber, was die Psychoanalyse von der modernen Hirnforschung lernen könne.
Anmerkung
In seinem veröffentlichten Werk hielt Penfield die Psychoanalyse auf Abstand, aber privat schien er durchaus ein Anhänger des Gedankens gewesen zu sein, dass traumatische Erinnerungen nur nachlassen, wenn man sie nicht zudeckt, sondern an die Oberfläche bringt. Er besaß ein zweites Haus, in dem er seine Sommer verbrachte und das er auch großzügig Kollegen und Freunden zur Verfügung stellte. 1942 hatte er einen jungen Engländer aufgenommen, der, nachdem sein Schiff unter Torpedobeschuss geraten war, mit knapper Not gerettet wurde. Ein guter Freund war ums Leben gekommen. In einem biografischen Porträt Penfields ist zu lesen, dass der junge Mann in einem Zustand höchster Nervosität ankam und sich jeder bemühte, ›ihn diese Erfahrung vergessen zu lassen‹.
Als sich seine Nervosität nicht besserte, fragte man Dr. Penfield um Rat. Statt das Thema zu vermeiden, überzeugte Dr. Penfield den jungen Mann davon, dass er versuchen solle, sich an jede Einzelheit dieser Tragödie zu erinnern und alles zu notieren: den Treffer und den Tumult. Die Verwirrung nach dem Ausfall der Elektrizität, die Angst, als die Kabinentür blockiert war, während er drinnen war, um wertvolle Dinge einzupacken, die langen Stunden der Seekrankheit im Schlauchboot, bevor er gerettet wurde. Kopien dieses Berichts gingen an seine Eltern und die Rockefeller Foundation. Und da hatte er plötzlich den Nervenzusammenbruch überwunden und konnte wieder so genießen wie die anderen.
Anmerkung
Wer Penfields Berichte durchgeht und liest, was all diese Hunderte von Patienten zu erzählen hatten, trifft übrigens selten auf Ereignisse, die des Verdrängens wert scheinen. Es sind alles Bruchstücke geordneter Leben: das Geräusch eines Balls, der gegen die Wand hüpft, ein Auto, das eine Einfahrt hochkommt, ein Nachbar, der seinen Sohn hereinruft. Keine Erinnerungen an ein heimliches Beobachten der Nachbarin, kein inzestuöses
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