Das Buch des Vergessens
den genauen Zusammenhang mit seinen Stromstößen konnte er selbst auch nicht spezifizieren.
Doch solche Nuancen verloren sich schon bald im größere Aufmerksamkeit Erregenden: das Gehirn als Tonband. Ab den Vierzigerjahren publizierte Penfield unzählige Abhandlungen mit stets gleichem Aufbau: eine kurze Erläuterung zum Montrealverfahren, dann ein paar Fallbeschreibungen mit den Flashback- und Erinnerungstypen, wie bei Patientin M. M., gefolgt von der Präsentation der Tonbandhypothese und der experimentellen Unterstützung, die mittlerweile dafür gesammelt worden war. Sobald sich eine Bühne für ihn auftat – die Eröffnungslesung eines großen Kongresses, die Sherrington Lectures, die Lister Oration, die Maudsley Lecture, die Gold Medal Lecture –, stand die Entdeckung des absoluten Gedächtnisses im Mittelpunkt. 1963 schien es kurzfristig, als strebe der inzwischen zweiundsiebzigjährige Penfield einen Abschluss an. In der britischen Zeitschrift Brain veröffentlichte er gemeinsam mit seinem Kollegen Perot eine Analyse von 1288 Operationen, bei denen die Hirnoberfläche gereizt worden war.
Anmerkung
Der Artikel umfasste einhundert Seiten und bekam den Untertitel: ›A final summary and discussion‹. Aber auch danach schrieb Penfield unbeirrt weiter, und bis Mitte der Siebzigerjahre erschienen Artikel und Bücher mit immer pompöseren Titeln wie ›Engrams in the human brain‹
Anmerkung
, ›The electrode, the brain and the mind‹
Anmerkung
und The mystery of the mind.
Anmerkung
Hatte Freud um 1900 die intakte Gedächtnisspur noch mit einem archäologischen Fund verglichen, wandte Penfield sich dem fortschrittlichsten aller künstlichen Gedächtnisse seiner Zeit zu, weswegen diese Metaphern in den Artikeln auftauchten, die über seine Entdeckungen in der Presse erschienen. ›Movie film in brain: Penfield reveals amazing discovery‹ titelte der Montreal Star 1957.
Anmerkung
Im selben Jahr veröffentlichte die Times einen Artikel über sein Werk mit der Mitteilung, Dr. Penfield habe kürzlich bei der National Acadamy of Sciences den Beweis erbracht, dass Teile des Gehirns wie ein Video-Tonbandgerät funktionierten und die Einzelheiten all dessen bewahrten, was jemand höre oder sehe.
Anmerkung
Eine Zwischenüberschrift lautete: ›Built-in-Hi-Fi‹. Zu einer Zeit, in der Tonbänder und Filmkameras auf breiter Basis in amerikanischen Haushalten Einzug hielten, waren dies ansprechende Analogien, die auch einem Publikum, das nicht in der Neurologie zu Hause war, ermöglichten, sich ein anschauliches Bild darüber zu machen, was sich laut der modernen Wissenschaft in ihrem Gehirn abspielte. Obwohl der Computer ab den Siebzigerjahren die dominante Metapher für das menschliche Gehirn wurde, sollte die Theorie vom absoluten Gedächtnis für immer ›taperecorder view‹ heißen.
Perdu?
1951 präsentierte Penfield seine Theorie über Gehirn und Gedächtnis während eines Symposiums der American Neurological Association.
Anmerkung
Die Ausführungen hangelten sich an den vertrauten Linien entlang: die Stimulation des Schläfenlappens, die Reaktionen von S. B., D. F., L. G. und noch einer Handvoll anderer Patienten, die ›vergessenen Erinnerungen‹, die auftauchten, die Unterschiede zwischen elektrisch aktivierten Erinnerungen und normalen Erinnerungen, die Schlussfolgerung, in den beiden Hemisphären werde ein doppeltes Register aller Erfahrungen geführt. Der Erste, der während der Diskussion nach dem Vortrag das Wort ergriff – und vorläufig auch nicht wieder abgab –, war Lawrence S. Kubie, ein führender Psychoanalytiker aus New York. Seit Jahren, so erzählte er, habe ihn kein wissenschaftlicher Beitrag so aufgewühlt wie Dr. Penfields: Endlich sei sie da: die Begegnung von Psychoanalyse und Neurochirurgie. Kubies Ansicht nach könnten wir aus seinem Werk lernen, dass die »elektrische Stimulation der Temporalrinde Phänomene auslösen kann, die mit hypnotisch hervorgerufenen Regressionen in die Vergangenheit übereinstimmen, mit einem Wiedererleben der Vergangenheit, als spiele sie sich in der Gegenwart ab. Es ist bemerkenswert, dass dies sowohl auf dem Operationstisch als auch im experimentell-psychologischen Labor geschehen kann. Hier ist der Beweis, dass die Vergangenheit genauso lebendig sein kann wie die Gegenwart oder dass, wie Freud es formulierte, das Unbewusste weder Zeit noch Raum kennt. Es beweist auch die Buchstabentreue, mit der verflogene Augenblicke dauerhaft als separate
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