Das Buch des Wandels
der Hand, dass wir für diese neue Welt neue Regelsysteme, Heuristiken, Instinkte ausbilden müssen. Elektronisch-soziale Netzwerke sind nichts anderes als Evolutionsbeschleuniger für die Kultur. Sie erhöhen die Taktgeschwindigkeit der Spiele, aus denen sich Gesellschaft formt. Schon John Stuart Mill formulierte: »Komplexität entsteht nicht durch die Anzahl der Gesetze … sondern durch die außergewöhnliche Anzahl und Variabilität der Elemente – der Agenten, die, den Gesetzen verpflichtet, zugunsten des erwünschten Effekts kooperieren.« 15
Die Botschaft der weißen Fahrräder
Springen wir noch einmal zurück in die sechziger Jahre, jene Zeit, in der die Spielregeln ähnlich drastisch umgeschrieben wurden. Bereits Mitte des wilden Jahrzehnts erregte in Amsterdam die sogenannte »Provo-Bewegung« mit symbolischen Guerilla-Aktionen zur Veränderung der bürgerlichen Moral Aufmerksamkeit. Eine legendäre Aktion war die Einführung der »Weißen Fahrräder«: Die Provos platzierten Hunderte von weiß angemalten Kollektivfahrrädern an verkehrsreichen Plätzen der Stadt. Damit wollte man aktiv gegen den »Verkehrsterrorismus einer motorisierten Minderheit« demonstrieren. Im Weiße-Fahrrad-Manifest schrieben die Provos im idealistischen Tonfall der Epoche: »Das weiße Fahrrad symbolisiert Einfachheit und gesundes Leben in Opposition zur geschmacklosen und schmutzigen Lebensweise des autoritären Automobils!«
In einer Zeit, die weder »Global Warming« kannte noch die Ölknappheit (die erste Ölkrise kam erst 1973, die Provos lösten sich 1968 auf), war das eine prophetische Aktion. Doch innerhalb weniger Wochen lagen alle weißen Fahrräder zertrümmert und verbeult in Kanälen, waren für eigene Zwecke »requiriert«, ausgeschlachtet oder nach England verkauft worden. Die Trägodie des Allgemeinguts in Aktion …
Seitdem wurde der Versuch eines kommunalen Fahrradssystems in verschiedenen Versuchsanordnungen vielerorts wiederholt. Europäische Großstädte sehen sich im Verkehrschaos gezwungen, neue Wege der Nahmobilität zu entwickeln. Die Klimakrise und die Knappheit in öffentlichen Haushalten verschärfen die Dringlichkeit solcher Versuche. Wenn man auch nur ein Prozent des städtischen Verkehrs auf Fahrräder umleiten könnte, wäre das eine gewaltige Entlastung.
In Paris, neben London die Metropole mit dem chaotischsten Innenstadtverkehr, ging man am konsequentesten vor. In Abständen von wenigen hundert Metern findet man seit 2007 die »Vélibs«, weiße robuste Fahrräder mit soliden Gepäckträgern und
dicken Reifen. Die 20 000 »Vélos libres« sind für jeden Bürger oder Gast zu einem eher symbolischen Preis (aber einem Preis!) verfügbar – 29 Euro für ein ganzes Jahr (Abo per Internet). Bis 30 Minuten Nutzung sind sie kostenlos, die nächste Stunde kostet am Automaten einen Euro. 53 Millionen Fahrten wurden in zwei Jahren unternommen, 7 Millionen Abonnenten sind registriert, etwa 1 Million Tonnen CO 2 wurden der Atmosphäre erspart, ganz zu schweigen von der Verbesserung der körperlichen Fitness. Die Stadt wandelt durch das Vélib-System ihre innere Topographie, was die Lebensqualität enorm erhöht.
Doch auch in der Welt des 21. Jahrhunderts gelten die Gesetze menschlicher Kooperation und Nichtkooperation. 8000 Fahrräder wurden seit Beginn des Programms gestohlen, etwa 2000 dauerhaft zerstört. Die Polizei verhaftete allein im Jahr 2008 1349 Vélib-Diebe – ein einfacher Fang, denn die Fahrräder sind deutlich auszumachen. Manche fanden sich als Dekoration auf Balkonen oder wurden als Souvenirs in andere Landesteile mitgenommen. Mindestens hundert landeten in der Seine. Man fand heraus, dass es sich bei den Vandalen nicht um die eigentlichen Stammnutzer handelt, die urbanen »Bobos« (von »bourgeois bohemian«; 69 Prozent aller Nutzer haben ein höheres Einkommen, viele arbeiten in kreativen Berufen). Die meisten Klauereien und Zerstörungen gingen auf das Konto von Kids, die nie Fahrrad fahren, aber ihre Wut an irgendetwas auslassen müssen. Langeweile, Verwahrlosung, emotionale Überschüsse …
Gegen den Vandalismus formierte sich eine Art Bürgerbewegung. Die Vélibs wurden noch einmal technisch verbessert – stärkere Rahmen, besserer Diebstahlschutz. Prominente aus der Künstlerszene solidarisierten sich, berühmte Comiczeichner und Sprayer spendeten Kunstwerke zur Verteidigung der Vélibs. Adressen und Namen von erwischten Vélib-Dieben wurden im Internet veröffentlicht.
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