Das Buch des Wandels
Generationen mit differenzierteren Strategien und höherem »Rauschen«
Die Kooperationen brachen über viele Generationen komplett zusammen, um sich temporär und schließlich über längere Zeit zu erholen. Unwillkürlich fühlt man sich an die menschliche Geschichte erinnert, mit ihren »dunklen Zeitaltern«, Renaissancen und Blütezeiten. Das Modell zeigt, wie schnell die Übergänge von Kooperation zu Konflikt (und umgekehrt) unter komplexen Bedingungen stattfinden können. Ersetzen wir die »ersparte Knastzeit« durch »Frieden«, erinnert das Ganze an den israelischpalästinensischen Konflikt. Oder die Konfliktlage in manchen Ehen oder Beziehungen. In den verschiedenen Agenten lassen sich allzumenschliche Reaktionsweisen erkennen: Der Nachbar, mit dem wir uns unentwegt über die Fliederhecke streiten, steht für den »Bösen Killer«. Der amerikanische Weltpolizist, der nach Vorwarnung mit B-52-Bombern kommt, wenn Saddam nicht kooperiert, erinnert an den »Smarten Killer« …
Noch einen Schritt weiter in Richtung eines echten Evolutionsmodells ging in den neunziger Jahren der Physiker Kristian Lindgren von der Universität Göteborg. Er kombinierte das Gefangenenspiel mit »Conways Life«, einem Computerspiel, das einen zellulären Automaten simuliert und dem Win-lose-Raster ähnelt. Lindgren führte in den Konflikt der Agenten einen »Gencode« ein, der im Verlauf mutieren und »ausgelesen« werden konnte. Jede Strategie / jeder Agent erhielt einen binären Code. So repräsentierte zu Beginn die »01« die Strategie »Wie du mir«, stand »11« für »immer kooperieren«, »00« für »immer Verrat«. Durch einen Zufallsgenerator wurde nun manchmal eine 0 oder 1 angehängt, oder Teile des Codes wurden zufällig ausgetauscht, so dass immer längere Codierungen entstanden, die immer komplexeren Reaktionsmustern entsprachen (»1101« könnte zum Beispiel heißen: »Reagiere positiv, wenn dein Gegenüber nur einen negativen Zug gemacht hat, nachdem du zweimal positiv reagiert hast …«). 13
Die folgende Grafik zeigt, wie sich daraus eine regelrechte Evolutionslandschaft entwickelt. Zwischen Phasen längerer Stabilität,
in der zwei oder drei Strategien dominieren, kommt es zu heftigen Turbulenzen und Auf und Abs. Der Verlauf ähnelt auch den Transformationen der Zivilisationen, mit »Hot Spots« des Wandels zwischendrin.
Abb. 19: Erweitertes Evolutionsmodell des Gefangenendilemmas mit »mutierenden Codes« von Lindgren
Der Pawlow-Effekt: Stabilität durch Sabotage
Gehen wir noch einmal zurück zum Nowak-und-Sigmund-Modell: Je mehr »Rauschen« die beiden Forscher in das System einbauten, desto erfolgreicher schlug sich »Pawlow« (benannt nach dem berühmten Pawlow’schen Hund), eine Strategie, die auf »flexible response« beruhte. Wenn der Pawlow-Agent vom Aufbau von Kooperationsstrategien profitiert, verhält er sich kooperativ. Wenn er sich dann aber in einer Umwelt von generellen Kooperateuren bewegt, wechselt er gnadenlos in die Verratsstrategie, um noch mehr »herauszuholen«. Wir kennen diese Strategie aus dem profanen Leben, sie heißt »Das-Fähnchen-geschickt-nach-dem-Wind-hängen«. In modernen Ökonomien wimmelt es von solchen flexiblen Opportunisten wie Börsenbrokern, Spam-Mail-Versendern und Strukturvertriebsorganisationen. Massenmedien sind geradezu Pawlow-Maschinen
– man denke an die Boulevardpresse und ihre Vorliebe für 80-Punkt-Schlagzeilen wie »Skandal! Sitten und Moral verfallen!« über nur mühsam schambedeckten Pornobildern. Doppelmoral hat eine lange, profitable Tradition. Auch ganz normale Konzernstrategien bergen Pawlow-Elemente. Mit Konkurrenten zu kooperieren, wenn es sich auszahlt, sie aufzukaufen oder niederzukonkurrieren, wenn sich das besser rechnet, das ist ein völlig normales und rationales Marktverhalten.
Unser moralischer Impuls hält solche Strategien eher für moralisch verwerflich. Im Kontext des Gefangenenspiels hatten sie aber eine erstaunliche Folge: Pawlow-Agenten waren in der Lage, ein »abgleitendes« Kooperationsniveau im Gesamtsystem wirkungsvoll zu stabilisieren! Sie hielten das ganze System ständig auf Trab, verhinderten eine allzu reibungslose Mechanik. Daraus lässt sich eine Lehre für den Wandel ziehen: Eine »gute Gesellschaft«, in der alle aus lauteren und kooperativen Motiven handeln, wäre gar nicht entwicklungs- und differenzierungsfähig. Eine gewisse Anzahl von »schlauen Bösewichtern« ist vielmehr sogar förderlich für den
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