Das Buch des Wandels
stolze Höhen. Krankenversicherung, Rentenversicherung, Alterszulagen – soziale Errungenschaften, um die heute die amerikanische Gesellschaft mühsam ringt, waren eine Selbstverständlichkeit. Flint, das war der Traum einer sauberen, effizienten, sich selbst ständig verbessernden Produktionswelt, in der sich der »amerikanische Traum« gleich in mehreren Dimensionen verwirklichte:
• In der perfekten Disziplin und Arbeitsteilung eines Produktionssystems, das seine Produktivität ständig erhöhen konnte – gesteuert von leistungsfähigen Managern.
• In der Kultur einer von männlichen Arbeitern und Angestellten dominierten Erwerbswelt. Männer mussten, konnten und wollten in dieser Welt eine Familie »ordentlich« ernähren und
erarbeiteten sich in den Hierarchien der industriellen Pyramidenorganisation einen Status.
• In der Vision eines ständig steigenden, für alle Schichten und Gruppen der Gesellschaft erreichbaren Wohlstands.
Eine Ruinenlandschaft erhebt sich heute über weite Strecken dort, wo die modernen Hallen standen. Das Ganze erinnert an die Ruinen der Maya, wirkt aber weder pittoresk noch monumental. Die Einwohnerzahl von Flint befindet sich im freien Fall und mit ihr die Bevölkerung des gesamten »Rostgürtels« um die beiden Zentren Flint und Detroit. Wie konnte die moderne amerikanische Autoindustrie derart tief in die Krise rutschen, dass ihr Ruf als Avantgarde solchen Schaden nahm? Wie konnten Amerikas glorreiche Manager, Techniker, Designer, Ingenieure die Zukunft derart verschlafen, dass sie, als Ölteuerung und CO 2 -Debatte auch Amerika erreichten, nur veraltete Motoren und klobige Automobile anzubieten hatten?
Adam Smith’ Idee der »Produktivität durch radikale Arbeitsteilung« wurde im »Fordismus« gnadenlos und weitaus konsequenter als im eher patriarchalisch geprägten Industrialismus Europas verwirklicht: kein Arbeitsschritt zu viel, kein Handgriff ohne Anleitung, keine Schraube, die nicht exakt ihren Ort fand. Funktionalisierung, Spezialisierung, Beschleunigung, Controlling - alle Ingredienzien des Taylorismus finden sich hier in voller Fahrt. Die US-Autoindustrie strukturierte aber nicht nur Produktionsprozesse in innovativer Weise. Sie entwickelte auch das lineare Wertschöpfungsmodell einer klassischen Angebotsindustrie. In seiner inneren Logik war dieses Modell konsequent dem »von innen nach außen« verpflichtet. Autos werden entworfen, produziert, vermarktet – in dieser Reihenfolge und mit aufwendigen Planungssystemen, die meist in 5-Jahres-Zyklen funktionierten. Das Ganze wirkt wie eine Perlenschnur, an dessen Ende der »Konsument« oder »Verbraucher« aufgereiht ist. In jedem der Segmente Planung und Vermarktung lässt sich gutes garantiertes Geld verdienen.
Das Ende der linearen Wertschöpfung
Dieses enorm erfolgreiche System hatte allerdings einige Voraussetzungen: Erstens benötigte es eine verlässliche Nachfrage des Konsumenten. Man muss unter hohem Kapitalaufwand langfristig Kapazitäten erschaffen, und dazu muss der Bedarf des Gesamtmarkts ständig und berechenbar steigen. Zweitens benötigt das System ein enorm großes Verwaltungs-, Kontroll- und Managementsystem, das alle Teilbereiche vom Einkauf bis zum Verkaufsraum ständig im Griff hat.
In der amerikanischen Autoindustrie war die Organisation des Unternehmens praktisch identisch mit der Organisation der Fabriken. Um Fabriken mit extrem hohen Arbeitsteilungsgraden zu betreiben, benötigt man ein striktes, hierarchisches Planungsregiment. (Es gab sogar, wie in der sozialistischen Wirtschaft, Fünfjahrespläne . Wenn man so will: kapitalistische Planwirtschaft.) Verwirklicht wurde es von Alfred P. Sloan, dem legendären CEO von General Motors in den zwanziger Jahren. Von nun an war GM ein »Management-Feudalschloss«. Die Aufgabe des Managements bestand darin, die Automodelle festzulegen, das Produktionssystem zu planen, und Lösungen für mögliche Produktionsprobleme zu finden. Wachstum bewältigte man neben der Produktionsausweitung mit Firmenkäufen und -fusionen.
Lange Zeit blieb dieses System unschlagbar. Die Weltkriege verliehen der Maschinerie noch einmal gewaltigen Schub. Die Alliierten gewannen den globalen Konflikt nicht zuletzt aufgrund des gigantischen Flugzeug-, Schiff- und Fahrzeug-Outputs amerikanischer Fabriken. Die »Innen-außen-Logik« wurde dabei nie in Zweifel gezogen – über Kundenwünsche, Detailinnovationen, Sonderwünsche musste man sich wenig Gedanken machen. Es ging
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