Das Buch des Wandels
meist eine Herrschaftsmetropole existierte, um die sich radial immer dünner besiedelte Areale erstreckten – die klassische Imperiumsstruktur -, ähnelte das Zentraleuropa des Spätmittelalters einem Flickenteppich. Auch kleine Fürstentümer bauten Residenzen, die dann mit anderen Fürstentümern wetteiferten – so entstanden bereits früh autonome Universitäten. Die vielen »Marktflecken« im Alpenraum begünstigten das Entstehen freien Bauerntums, was wiederum die landwirtschaftliche Produktivität vorantrieb. Mit der Geldwirtschaft und dem Kreditwesen begann der ökonomische Kreislauf von Innovation und Investition richtig auf Touren zu kommen – Marx’ »ursprüngliche Akkumulation«, die zur Bildung von privaten Kapitalstöcken führte, nahm ihren Lauf.
Doch der wichtigste Wandelaspekt innerhalb Europas war wahrscheinlich die Idee der Demokratie. Europas vielfältige politische Systeme entwickelten früh Inseln individueller Freiheit, die auf antike Rechtsstatuten zurückgingen. Die Schweiz bekannte sich schon im 13. Jahrhundert zu jenem »bündischen Prinzip«, in dem sich lokale Autonomie mit gemeinsamer Stärke kombinierte – was in eine der frühesten modernen Republikgründungen münden sollte. Europas blutige Kriege und politische Wirren, das Hin und Her der Aufstände, Restaurationen, Separationen – all dies schuf ein Übungsfeld sozialer Ordnungen, auf dem mal diese Nation (England), mal jene Dynamik (das revolutionäre Frankreich), mal diese Kultur (das Handelsimperium der Holländer und Portugiesen, das Tüftler-Deutschland des späten 19. Jahrhunderts) die Pole-Position des Fortschritts einnahm. Das reformierte Christentum, vor allem in seiner calvinistischen Variante, entwickelte ein neues Ethos der Arbeit, in der diese zur säkularen Erfüllung des Menschenschicksals umgedeutet wurde.
Aus der Mitte dieses energiereichen Kontinents entstand nun die zweite, noch radikaler »alle menschlichen Verhältnisse umwälzende« Transformation.
Erfindung, Maschinen, Kapital: das industrielle Zeitalter
Im Winter des Jahres 1763 stand in einer Werkstatt im schottischen Glasgow ein junger Ingenieur über das Modell einer seltsamen Maschine gebeugt. James Watt war ein begnadeter Tüftler mit erheblichem Selbstwertgefühl. Ein Autodidakt, der innerhalb einer Woche alles über den Orgelbau erlernte und ebenso belesen wie musikalisch war. Ein Produkt jener bürgerlichen Universalbildung, wie sie im 18. Jahrhundert in vielen Städten Europas üblich wurde. Aber eben auch ein »Mann der Hände«. Ein Professor der Glasgower Universität sagte bewundernd über ihn: »Ich sah
einen Arbeitsmenschen und erwartete nicht mehr. Aber ich war überrascht, einen Philosophen zu finden.« 29
Die Maschine, die Watt in seinem Kabinett untersuchte, stammte von einem Kollegen namens Thomas Newcomen. Watt hatte das Exemplar eigens aus dem weit entfernten London nach Schottland transportieren lassen. Nun versuchte er herauszufinden, was an dem beeindruckenden Gerät nicht stimmte. Man hatte die seltsame »Feuermaschine«, in der sich ein Kolben durch Dampf hob und senkte, bereits erfolgreich als Pumpe zur Entwässerung von Bergwerken genutzt, aber ihre Leistung schien begrenzt und das Gerät störanfällig. Sie litt sie unter »galoppierendem Verschleiß«, weil die enormen Kräfte der Auf-und-abBewegung die Kolbenlager schnell zerstörten.
An einem der wenigen schönen Tage in Glasgow kam Watt zwei Jahre danach auf einem Spaziergang die entscheidende Idee. Er schrieb später: »Ich begriff plötzlich Dampf als einen elastischen Körper, der in ein Vakuum gelangen könnte, und solchermaßen abgekühlt in eine Kommunikation mit dem im Zylinder verbleibenden Druck geraten könnte, ohne die Kraft darin zu vermindern.« 30
James Watt »erfand« die Dampfmaschine, aber wie bei so vielen Erfindungen handelte es sich nicht um eine reine »Erfindung«, sondern um eine – allerdings entscheidende – graduelle Verbesserung von schon vorhandener, prototypischer Technologie. Watt schaffte den entscheidenden Durchbruch zur Kraftübertragung, weil er die Maschine systemisch sehen konnte, von zwei Seiten, nämlich einer physisch-sinnlichen und einer theoretisch-mathematischen. In seinem analytisch begabten Hirn verband er damit die beiden Stränge der abendländischen Geschichte: die kognitive Seite der Wissenschaften, der Theoriebildungen, und die praktische Seite des ständigen Ausprobierens und Verbesserns. Er konnte die
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