Das Buch des Wandels
Keplers bis in die Zeit Mozarts, spricht Bände. So entstand eine »Kultur des Wandels«, weil Europa ein Kontinent der dynamischen Ungleichgewichte war – des ständigen Kampfes zwischen Alt und Neu, Peripherie und Zentrum, Zentralität und Dezentralität. 25
Andere Faktoren kamen hinzu. Europas Schrift, aus dem Lateinischen entstanden, bot anders als die chinesische, arabische oder die der indianischen Hochkulturen einen »Quellcode«, der sich gleichermaßen für Dokumentation und Kommunikation eignete. Chinesische Schriftzeichen erfordern die elitäre Kunst von Schriftgelehrten, bis zu 10 000 Zeichen müssen erlernt werden, um flüssige Texte zu schreiben. In Europa unternahmen die christlichen Kirchen in der Reformationszeit die ersten Initiativen zur Alphabetisierung des Volkes. So konnte sich der Buchdruck ungleich besser entwickeln – und kulturelle Emanzipationswirkung erzeugen.
Europas Religion, das ständig »mutierende« Christentum, fand, anders als die transzendentalen Religionen des Fernen Ostens, immer wieder Anschluss an die Lebenswirklichkeit der Menschen. Christliche Klöster des Mittelalters waren immer auch Zentren von Wirtschaftstätigkeiten. Das Christentum war es auch, das die genealogischen Strukturen von innen heraus veränderte. Im Zentrum des christlichen Familienbildes steht die »Gattenehe«,
also die heilige Einheit von Mann und Frau. In den traditionalen Gesellschaften und Ahnenkulturen, wie wir sie heute noch vor allem in der islamischen Welt kennen, sind Paare fest in den »Schwarm der Sippe« integriert. Großeltern, Tanten, Onkel, Cousinen, Großonkel, Vettern ersten, zweiten, dritten Grades – alle haben mitzureden und mitzubestimmen, was das Ehepaar unternimmt, wie es sich kleidet, wohnt, seine Sexualität gestaltet. Oft sind es die Ältesten, die ganz und gar das Sagen haben (in der klassischen Ahnenkultur Asiens und Afrikas sogar noch dann, wenn sie tot sind). Durch die »Gattenehe« entstand im Herzen der christlichen Kultur Privatheit, die Autonomie einer kleineren Kernfamilie und eine kommunikative Distanz zwischen den Generationen. 26
Die Stadt: Markt, Handel, Rechte
Wo Menschen auf engem Raum leben, ändern sich die Regelsysteme. Städte erzeugen Freiheiten, Nischen, Entkoppelungen von Traditionen, und sie erzwingen neue soziale Differenzierungen. Und deshalb gilt von Babylon bis Manhattan, von Buxtehude bis Berlin: Stadtluft macht frei und klug. 27 Nicht jeden und nicht sofort. Aber auf Dauer bieten größere Ansammlungen von Menschen ungleich mehr Optionen, Nischen, Chancen für den Einzelnen. Städte erlauben Menschen, schneller voneinander zu lernen. Sie sind vor allem für diejenigen, die darauf angewiesen sind, Verbindungen und Innovationen herzustellen – Händler, Geschichtenerzähler, Gastronomen, Künstler, Tüftler -, das ideale Soziotop.
Lebendige Städte bergen in ihrem Kern zudem eine alte Institution des Wandels: den Markt. Märkte bringen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen zusammen und zwingen sie zu Verhandlungen und Kooperationen (natürlich kann man sein Gegenüber übers Ohr hauen – aber nicht lange!). Güteraustausch über weite
Strecken befördert Wissen und Know-how. Venedig bezog seinen besonderen Reichtum aus seiner Fähigkeit, mit der arabischen und asiatischen Welt dauerhafte Verbindungen zu pflegen. Die Holländer, die Spanier und die Portugiesen mehrten ihren Reichtum mit Gewürzen und Handelswaren aus aller Welt, und sie steigerten dabei auch ihr intellektuelles und humanes Kapital.
Schon die Bauern des Neolithikums tauschten mit Jägern und Sammlern Korn gegen Tierfelle. Aber erst das Mittelalter machte aus dem Handel eine eigene Kulturform. Die mittelalterliche europäische Stadt bot in ihren Mauern Schutz vor Feinden, aber im Verlauf des Mittelalters auch zunehmend Schutz vor der Willkür der Herrscher. Zwischen Markt und Herrschaft kam es zu einem historischen Kompromiss, weil die Feudalherren von Handel und Wandel profitierten. In den europäischen Städten entwickelten sich jene Gewerbe- und Handelsrechte, die zu den ersten verfassten Bürgergesellschaften führten. In den organisch geschlossenen mittelalterlichen Stadtarchitekturen kann man heute noch das Sozialsystem der Stände, Gilden und Bürgerrechte bewundern, wie es Europas Geschichte zutiefst geprägt hat.
Europa war, weitaus mehr als alle anderen Kontinente, eine zur mittelgroßen Stadt tendierende Gesellschaft. 28 Während in den Imperien und Hochkulturen
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