Das Buch des Wandels
Wechselwirkungen zwischen beiden Seiten verstehen und damit die Schwachstellen des Mechanismus identifizieren. Es war der Zweifel, die Abweichung, die Kritik, die zum Wandel
führte. Der Schwung der Kolbenbewegung konnte durch Watts Ergänzung nun in eine kreisförmige Bewegung übersetzt werden. Der wirkliche Erfolg kam erst, als Watt sich mit dem umtriebigen Eisenschmied Matthew Boulton zusammentat. In seiner boomenden Fabrik bei Birmingham prahlte Boulton gegenüber Besuchern stolz: »Wir verkaufen hier das, was die Welt wirklich begehrt: Kraft! « 31
Die industrielle Revolution markiert jenen zweiten »großen Übergang«, in der die gesellschaftlichen Beziehungen radikal umgeformt wurden – wie die Raupe im Inneren eines Kokons. Ökonomie, Produktion, Arbeitsformen, Menschenbeziehungen, Weltwahrnehmungen, Zeitkulturen, Geschlechterbeziehungen – alles geriet in den Bann der »Entfesselung der Maschine«. Aus Bauern wurden Fabrikarbeiter, aus gemütlichen Residenzstädten überfüllte Großstädte mit gewaltigen sozialen Problemen, aus Landschaften Rohstoffhalden, aus schlichter Natur »Ressourcen«. Der Industrialismus, wie die Lebensform genannt wird, die sich rund um die Maschinenproduktion entfaltete, war eine komplette »Neuverdrahtung« menschlicher Verhältnisse. Und seine Geschichte, sein triumphaler Erfolg ist, wie wir in China, Indien und vielen anderen Ländern der Erde sehen, noch lange nicht zu Ende. Alvin Toffler, der amerikanische Futurologe, beschreibt diesen Prozess in seinem Klassiker »Die Dritte Welle« in einer an Marx erinnernden Diktion:
»Der Industrialismus spaltete die Gesellschaft in Tausende von einzelnen Fragmenten – Fabriken, Kirchen, Schulen, Gewerkschaften, Gefängnisse, Krankenhäuser und so fort. Er zerbrach die Kommandolinien zwischen Kirche, Staat und Individuum. Er zerbrach Wissen in spezialisierte Disziplinen, Berufe in Tätigkeiten, Familien in kleinere Einheiten. Und indem er das tat, zerstörte er das Leben und die Kultur der Gemeinschaft.« 32
Funktionalisierung, Spezialisierung, Beschleunigung: die industrielle Kultur
In der alten, der feudal-agrarischen Gesellschaft ist das Schicksal des Einzelnen durch seine Geburt und sein unmittelbares soziales Umfeld vorbestimmt. Seine Zugehörigkeiten garantieren ihm eine feste soziale Identität: der Sohn des Soundso, der Lehrling des Handwerkers, das »Schäfchen« der Kirche, der Dienstbote einer Autorität, eines Lehnsherrn. Man spricht nicht umsonst von der »Vasallentreue«, die den Einzelnen bedingungslos an eine nicht gewählte Autorität bindet, ihm in diesem persönlichen Rahmen aber auch gewisse Rechte garantiert. Etwa eine gewisse Fürsorge oder Versorgung in Notzeiten.
Die industrielle Kultur »entfesselt« nun diese Bindungen in verschiedener Hinsicht. Ihre Energien treffen vom frühen 18. Jahrhundert an auf eine Gesellschaft, in der sich die Mehrzahl der Menschen immer noch von dem ernährt, was sie auf dem Land anbaut, und die immer noch von der alten Feudalordnung zutiefst geprägt ist. Die ersten »Segnungen« des Fortschritts in Form medizinischer Erkenntnisse erfassen auch die ländlichen Gebiete, und so steigen die Geburtenraten in dieser Zeit schnell an. Es kommt zum großen Exodus vom Land in die rasend wachsenden Industrie- und Ballungsgebiete, in denen Chaos, Elend, aber auch Hoffnung herrschen. Millionen Menschen werden von dieser Dynamik bis über den Atlantik getrieben, wo in Amerika eine zweite, befreitere, kapitalistische Variante des Industrialismus entsteht.
Was zeichnet diese neue Gesellschaft vor allem aus? Vielleicht jene rasende Funktionalisierung, die Charlie Chaplin in seinem Film »Modern Times« so schön ironisch illustriert hat. Der Mensch wird ein Rädchen. Das Fließband gibt den Takt vor, die Handgriffe sind immer die gleichen, und zum Schluss schluckt die rasende Maschine seinen Schöpfer. Industrielle Kulturen »interessieren« sich für Menschen auf einer neuen Ebene. Sie sehen
im Individuum nicht das Sippenmitglied, den Nahrungskonkurrenten oder den »Feind«. Sie interessieren sich ausschließlich für die Funktionen, die Menschen in den Kontexten der Maschine ausüben können.
Der zweite Aspekt ist die Spezialisierung: Aus »Gewerken« und flexiblen Berufen werden spezielle Qualifikationen. Diese Spezialisierungen sind es, die dem Einzelnen schließlich seine soziale Rolle zuweisen. Adam Smith, der große Prophet der Arbeitsteilung, beschreibt diesen Umstand in »Der
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