Das Buch des Wandels
ein Bürger. Aus dem Bewohner eines bestimmten Sozialmilieus formte sich ein Individuum. Aus den Kontrollinstrumenten des Staates oder der ökonomisch Herrschenden entstand ein Sozialstaat, der auf vielfältige Weise seinen Bürgern zu Dienstleistungen verpflichtet ist (auch wenn er nicht immer erfüllt, was von ihm erhofft wird). Die Ökonomisierung der Gesellschaft war unerhört erfolgreich, und ihre Dynamik bleibt ungebrochen. Dieser Prozess treibt uns in eine Freiheit, die uns ständig überfordert und die wir doch ewig ersehnen. Er gibt uns die Macht, zu bestimmen, wie wir uns kleiden, wie wir lieben und unsere Umwelt gestalten wollten. Und zwingt uns gleichzeitig zu ständigen Entscheidungsoperationen, die Menschen in keiner anderen Gesellschaftsform vollbringen mussten.
Und da sind wir nun also. Der alte Jäger und Sammler ist – wieder – angekommen. In einem Paradies ganz neuer Art, in der »das Fleisch« an jeder Ecke in Hülle und Fülle zu haben ist. Da liegen sie ausgebreitet unter dem Neonlicht, bei Tag und bei Nacht, die Leckereien, die unerhörten Überflüsse des Zuckers, der Proteine, die Berge köstlicher Fette und süßester Früchte – Verlockungen, die früher nur in Mythen und Märchen zu haben waren. All das steht uns rund um die Uhr zur Verfügung, mit ein bisschen Geld
ist so gut wie alles zu haben, und selbst die Ärmsten der Armen verfügen heute über Reichtümer, von denen unsere Vorfahren noch nicht einmal träumen konnten. Wir haben die Wahl. Überall leuchten nun die »Geister« der Werbung, trommeln die Botschaften der elektronischen Kommunikation, wabern die Bilder der Massenmedien. Die große Dürre ist der großen Überfülle gewichen.
Verwundert reibt sich unser alter Primat die Augen. Kann das alles wahr sein? Ist es nicht Hexerei und Teufelswerk? Schon ergreift uns die Panik. Kann das bleiben? Nie und nimmer! Etwas Schreckliches wird passieren, muss passieren. Wann kommt die nächste Dürre? Die nächste große Flut?
Gene, Meme und Probleme
Sammeln wir noch einmal, welche Kräfte den soziokulturellen Wandel der Menschheit durch die zwei großen Transformationen vorangetrieben haben:
• Krankheit, Klimawandel, Hoffnung
• Planung, Überschüsse, Bewässerung
• Krieg, Konkurrenz, Charisma
• Organisation, Kommunikation, Kontrolle
• Regen, Gattenehe, Vielfalt
• Markt, Handel, Rechte
• Erfindung, Maschinen, Kapital
• Funktionalisierung, Spezialisierung, Beschleunigung. Alle diese Faktoren bauen aufeinander auf, sie sind in ständiger Wechselwirkung begriffen. Wir erahnen, dass ein bestimmtes Prinzip dahintersteht, ein systemisches Ordnungsprinzip, nach dem die verschiedenen Ebenen der menschlichen Kultur miteinander in Verbindung stehen:
• Die ökonomische Ebene: die materielle Basis des Lebens, die Arbeitsteilungen, die Organisationen der Produktion, der Fertigkeiten,
Wertschöpfungen, der Handelsbeziehungen und so weiter.
• Die symbolische Ebene: die Welt der Mythen, Symbole und Werte, die eine Gesellschaft innerlich strukturieren, aber auch der schöpferischen Ausdrucksformen in Musik, Tanz, Bild und anderen Künsten.
• Die technologische Ebene: die Verfügbarkeit von produktionssteigernden Systemen und Artefakten, einschließlich des Systems der Wartungen, Innovationen und Verfeinerungen.
• Die politische Ebene: die Ebene der Macht und ihrer Kontrolle, der Verwaltung, Zuweisung, Verteilung, Regelung von Konflikten.
• Die mentale Ebene: die Ebene der kognitiven Fähigkeiten, des Geistes und des Bewusstseins; die Art und Weise, wie wir »Welt« beschreiben und verstehen.
• Die alltagskulturelle Ebene: das Universum der Rituale, Kommunikations- und Familienformen, der alltäglichen Verrichtungen, der generativen und Geschlechterrollen.
Das, was wir »Wandel« nennen, ist nichts anderes als das Resultat gelungener Synchronisationsarbeit zwischen diesen Ebenen der menschlichen Kultur. Das Kultur- und Kommunikationssystem passt sich den Veränderungen der Ökonomie an, die Politiksysteme müssen den Arbeitsteilungen, die Werte den Menschenbildern, die Organisationsformen den Produktionsweisen folgen. Zu jeder Technik gehört eine adäquate Soziotechnik, zu jeder Ökonomie eine Kulturtechnik – und vice versa.
Das Beispiel der kleinen Insel Nauro im Pazifischen Ozean zeigt, dass »Reichtum« allein keine Transformation bewerkstelligen kann: Die Inselbewohner fanden große Mengen des begehrten Rohstoffes Phosphat auf ihrer Insel, wurden
Weitere Kostenlose Bücher