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Das Buch des Wandels

Titel: Das Buch des Wandels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Horx
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Wohlstand der Nationen« als Triebkraft und Kern jenes fundamentalen Prozesses der Produktivität, dem wir unseren heutigen Wohlstand verdanken. Richard Sennett hat die Kehrseite, die Entfremdung, dargestellt, die entsteht, wenn in einem radikal arbeitsteiligen Prozess jede Form der Handwerklichkeit zerstört wird. 33
    Und schließlich entwickelt sich aus den Marktgesetzen heraus ein drittes Prinzip, das der Beschleunigung . Es betrifft zunächst die Erfindungen, die in einer neuen Weise miteinander verkettet werden – durch Patentverfahren, kommerziellen Austausch von Wissen und schließlich die Anstellung von Ingenieuren und Innovatoren in Großunternehmen. 34 Weil nun alles gemessen, getaktet, in winzige Arbeitsschritte geteilt werden kann, spucken die Fabriken nicht nur ein Zehn- oder Hundertfaches, sondern ein Tausendfaches dessen aus, was eine handwerkliche Produktion zu leisten vermag. Aber da auch die Konkurrenten dies tun, muss man ständig verbessern, nachjustieren, rationalisieren. Industriekultur basiert auf der Idee der Steigerung - des Tempos, des Outputs, des Verbrauchs. So entstand einerseits breiter Wohlstand. So entstanden aber auch jene heroischen Utopien, in denen der technische Fortschritt als Überprinzip der Geschichte gefeiert und zelebriert wurde.
    »Industrialismus« ist nicht an ein bestimmtes Gesellschaftssystem gebunden. Er kommt in Varianten einher: der kapitalistischen Version, in der die Marktkräfte das System vorantreiben. In der ideologisch-totalitären, in der ein »historisches Prinzip«
der Entfesselung der Produktivkräfte dient. Das Sowjetsystem brachte den Industrialismus in seiner Ideologie-Variante auf den Punkt: Maschinenmenschen im heroischen Kampf gegen den Klassenfeind. An dieser Front entstand ein neuer, archaischer Opfermythos: der Fortschritt als »Schlacht«, in die unentwegt Menschenmaterial »geworfen« werden muss wie in einen heißen Ofen. Der Gulag war kein Exzess, sondern das eigentliche Zentrum dieser »Logik des Verheizens«, das Menschen nur noch als Ableitungsphänomene betrachtete, die man nach Belieben verschieben, dressieren, auslöschen darf. Eine Logik, die nur noch durch Hitlers Totalmobilmachung einer ganzen Gesellschaft übertroffen wurde, in der die uralten Menschenthemen Mystik, Blut und Krieg mit der maschinellen Beschleunigung zu einer einzigen Orgie des Terrors verschmolzen.
    Auch hier stellen wir wieder die Frage: Warum haben Menschen sich all das angetan? Warum sind sie nicht sesshafte Bauern geblieben, deren Leben aufgrund verbesserter Züchtungen und Bewirtschaftung gewonnen hätte? Die Industriekultur wäre nicht so unerhört erfolgreich gewesen, wenn sie nicht auch eine andere, ungeheuer betörende Seite aufgewiesen hätte: Sie entfesselte die Menschenverhältnisse auch im Sinne einer Vision von Freiheit.
    Die existentielle Bindung an die Familie und Obrigkeiten mag dem Einzelnen Halt und gesicherte Identität geben. Aber sie beschränkt ihn auch radikal auf seine soziale Rolle. In den Ländern, die den Anschluss an die Industriemoderne nicht schafften, kann man die alten Verhältnisse der Clan- oder Sippenökonomie heute noch besichtigen: Mädchen werden im Kindesalter verheiratet, Verwandtschaftsverhältnisse machen Lebensstil-Entscheidungen praktisch unmöglich. Auch wer in unseren Breiten in Dörfern oder Kleinstädten lebt, kann den Zwang der sozialen Normen noch erleben. Verbindliche Werte, universale Prinzipien, unverbrüchliche Bindungen, nach denen sich die Kulturkritiker so sehnsuchtsvoll zurücksehnen, haben für das Individuum Schattenseiten. Die Distanz, die Beliebigkeit, die »Anonymität« der
großstädtischen Kultur, die wir heute gern vehement kritisieren, ist gleichzeitig die Bedingung dessen, was wir eben auch ersehnen: individuelle Freiheit und Wahlmöglichkeit. Erst durch die allgemeine Entfremdung, wie sie in den Großstädten der spätindustriellen Kultur herrscht, können wir unsere Verbindlichkeiten selbst gestalten. Nur weil der industrielle Wohlstand uns die stetige Distanz zu anderen Menschen ermöglicht, weil wir nicht mehr sozial auf sie angewiesen sind, können wir Liebe, Intimität, Freundschaft, Treue überhaupt unterscheidend gestalten.
    Es war ein langer Weg von den rauchenden Schloten der ersten Fabriken bis zur Google-Starbucks-iPod-Twitter-Welt von heute. Aber irgendwann auf diesem langen Weg wurde aus dem Lohnabhängigen, dem Proletarier, ein Konsument. Aus dem Massenoder Klassenmenschen entstand

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