Das Buch des Wandels
das sie im 12. Jahrhundert fast vollständig überrannten.
Europas Aufstieg: Regen, Gattenehe, Vielfalt
Was ließ Europa im Rennen um den technischen, kulturellen und sozialen Fortschritt am Ende den nächsten Etappensieg davontragen? Zunächst ganz banal: das Klima.
Während Chinas fruchtbare Reisfelder in einer gemäßigten Zone mit milden, regenreichen Wintern und warmen Sommern liegen, ist Westeuropa, der »Auswuchs« des eurasischen Kontinents, den atlantischen Winden und Wetterwechseln ausgesetzt. Kurze, wachstumsintensive Sommer wechseln sich mit kalten Wintern ab. Das verhindert die allzu große Vermehrung von Insekten und Krankheitserregern. Es erzwingt die Errichtung fester Häuser, was die Bautechniken fördert. Der Wechsel der Temperaturen und Jahreszeiten bringt auch diversere Kultur hervor: Kleider müssen mal warmer, mal kalter Witterung entsprechen, deshalb differenzieren sich Stoffe, Materialien und Stile aus. Europas Topographie ist zerklüftet und vielfältig; auf relativ geringer Fläche finden sich viele verschiedene Klimazonen, was die Biodiversität erhöht. Nicht ein Grundnahrungsmittel wie der Reis setzte sich in den kleinteiligen Landschaften durch, sondern es gibt eine ganze Reihe – Mais, Gerste, Weizen, Roggen, Hafer, Dinkel. Nicht nur Schwein und Ziege wie in China, sondern auch Rind, Pferd und Schaf konnten hier heimisch werden. Felder konnten in Europa durch Rodung der Wälder beliebig gewonnen werden, Bauern ihre Höfe individuell ausweiten – ganz anders als in China, wo das Terrassensystem Grenzen setzte und Erweiterungen der Anbaufläche allenfalls über kollektive Beschlüsse möglich waren.
Europa ist der einzige Kontinent auf der Erde, der moderate, kontinuierliche Regenfälle rund ums Jahr aufweist, was die landwirtschaftliche Arbeit erleichtert. Alle anderen kennen lange Trockenzeiten, die zur Bewässerung zwingen, und intensive Regenzeiten, in denen alle Transportwege monatelang unpassierbar und die Flüsse reißend sind. In weiten Teilen Asiens und Afrikas bedeutet Regen eine temporäre Sintflut, die die Landschaft eher verwüstet als wässert. In Europa fließen die Flüsse das ganze Jahr über, die kleineren wie die größeren, auch das ein Vorteil.
Die Kraft der Wasser- und Windmühlen bildeten eine wichtige Grundlage der technischen Evolution. Die ersten Wassermühlen nahmen in Europa bereits im 12. Jahrhundert ihren Betrieb auf, ihre Technik verbreitete sich rasch entlang der mitteleuropäischen Flussläufe. 24 Mühlen übernahmen alle Arbeiten, die Menschen auch bei schwerer körperlicher Anstrengung nicht oder nur sehr mühsam schafften: Hämmern, Stoßen, Stampfen, Mahlen. Mühlen eröffneten den Weg ins »mechanische Zeitalter«. Wo sie am emsigsten klapperten, entlang mittelgroßer Flüsse mit mäßiger Flussgeschwindigkeit, entwickelten sich auch die Kerne der innovativen Handwerkskulturen. Die Uhrmacher, Holzverarbeiter, Instrumentenbauer, Metallurgen, die die entscheidenden Vorstufen zur Maschine schufen, wohnten und werkelten in Mühlenregionen.
Während die höchste Ehre und das höchste Ziel eines chinesischen Handwerkers in der Herstellung der perfekten Kopie lag, ging es in den innovativen Zentren Europas schon frühzeitig um die Erfindung des Neuen. Basis bildeten die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die seit der Renaissance einsetzten; sie schufen den dynamischen Rahmen für eine Innovationskultur, die sich aus dem Wissen und Streben nach Erkenntnis ebenso speiste wie aus wirtschaftlichen Interessen. Europas Künstler, Philosophen und Techniker waren eben nicht nur Lakaien höherer Mächte, auch wenn Kirche und Hof zunächst eine wichtige Rolle bei der Auftragsvergabe spielten. In Europa stritten sich viele Herrscher
seit den Völkerwanderungen munter und bisweilen blutig um Territorien, um Macht und Einfluss. Wissenschaftler, Künstler und Gelehrte, aber auch Erkenntnisse und Patente wurden in diesem Wettstreit bald zu einem Aktivposten. Konkurrenz belebt bekanntlich das Geschäft. Fiel ein hervorragender Denker, Dichter oder Komponist in einem Fürstentum in Ungnade, bekam er aus dem nächsten garantiert ein besseres Angebot (in China und anderen monolithischen Imperien sah die Sache anders aus; Verbannung war noch die Positivste aller Möglichkeiten). So befeuerte die Konkurrenz der Kleinstaaten die Künste, die Wissenschaft und technologischen Fortschritt. Die lange Geschichte des feudalen Mäzenatentums, von den Tagen Michelangelos und
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