Das Buch meiner Leben
sporadische Schüsse und Granatfeuer täglich zunahmen. Immer öfter waren sie mit den Nachbarn im Keller und versuchten Mek zu beruhigen. Am 2. Mai 1992 bestiegen sie, mit Mek an der Leine, den letzten Zug, bevor die unerbittliche Belagerung Sarajevos begann. Bald kam der Bahnhof unter Beschuss, und rund zehn Jahre lang konnte kein Zug die Stadt verlassen.
Meine Eltern fuhren in das Dorf in Nordwestbosnien, aus dem mein Vater stammt, ein paar Kilometer von Prnjavor entfernt, das die Serben inzwischen eingenommen hatten. Auf einer Anhöhe namens Vućijak (Wolfshügel) stand noch das Haus meiner verstorbenen Großeltern. Dort waren Bienenkörbe, die meinem Vater gehörten und die für den Sommer vorbereitet werden mussten. Hauptsächlich deswegen hatte er Sarajevo verlassen. In Verkennung der Tatsache, dass sie womöglich lange Zeit nicht mehr heimkehren konnten, hatten sie weder warme Kleidung noch ihre Pässe, sondern nur ein paar Sommersachen eingepackt.
Sie verbrachten die ersten Kriegsmonate dort auf dem Land, lebten von dem, was Honigproduktion und Gemüsegarten hergaben. Konvois mit betrunkenen serbischen Soldaten kamen vorbei, unterwegs zu einer ethnischen Säuberungsaktion oder zurück von der Front, sie sangen blutrünstige Lieder und schossen wütend in die Luft. Meine Eltern versteckten sich im Haus und hörten heimlich Nachrichten aus dem belagerten Sarajevo. Wenn Mek den Lastwagen manchmal fröhlich hinterherrannte, riefen meine Eltern ihn verzweifelt zurück, weil sie befürchteten, die betrunkenen Soldaten könnten ihn aus reiner Gaudi erschießen. Wenn keine Transporter und keine Soldaten in der Gegend waren, lief er die Berghänge hinauf und hinunter, vielleicht erinnerte er sich an die Zeit auf der Jahorina.
In dem Sommer wurde Mek krank, kam nicht mehr auf die Beine, aß und trank nicht mehr, in seinem Urin war Blut. Meine Eltern betteten ihn im Badezimmer auf den Boden, dort war es am kühlsten im ganzen Haus. Mutter streichelte ihn und redete mit ihm, und er sah sie dabei aufmerksam an – sie behauptete immer, er habe jedes ihrer Worte verstanden. Sie riefen den Tierarzt, doch der war ständig unterwegs, weil er sich um alle Tiere in der Gegend kümmern musste. Als er ein paar Tage später kam, sah er sofort, dass Mek von Zecken befallen war, die ihn vergifteten. Seine Prognose war nicht sehr gut, aber er meinte, in der Praxis könne er ihm ein Mittel injizieren, das vielleicht helfen würde. Mein Vater lieh sich von meinem Onkel den Traktor und einen Anhänger, in dem normalerweise Schweine zum Schlachten transportiert wurden, und schaffte den lahmen Mek hinunter nach Prnjavor, damit er die lebensrettende Spritze bekam. Wenn unterwegs Armeelastwagen vorbeifuhren, starrten die Soldaten auf den hechelnden Mek.
Das Wundermittel half, Mek erholte sich schon bald. Doch dann ging es meiner Mutter furchtbar schlecht. Sie hatte Steine in der Gallenblase – in Sarajevo war ihr eine Operation empfohlen worden, die sie aus Angst immer wieder hinausgeschoben hatte, und dann war der Krieg ausgebrochen. Ihr Bruder, Onkel Milisav, der in Subotica an der ungarischen Grenze wohnte, holte sie ab, damit sie sich dort operieren lassen konnte. Vater musste auf seinen Freund Dragan warten, der ihn und Mek nach Subotica bringen würde. Und während er die Bienenstöcke für die lange Zeit seiner Abwesenheit vorbereitete, lag Mek im Gras und leistete ihm Gesellschaft.
Wenig später traf Dragan ein. Am Checkpoint vor Vućijak war er angehalten worden. Die Männer, unrasiert, betrunken und ungeduldig, hatten ihn gefragt, wohin er wolle. Als sie hörten, dass mein Vater ihn erwartete, erklärten sie in drohendem Ton, dass sie meinen Vater schon lange beobachteten, dass sie alles über seine Familie wüssten (ukrainischer Herkunft – Anfang des Jahres war die ukrainische Kirche in Prnjavor von Serben in Brand gesteckt worden), auch über seinen Sohn (also mich), der antiserbische Artikel geschrieben habe und inzwischen in Amerika sei. Sie hätten nicht übel Lust, meinen Vater ein für alle Mal zu erledigen, sagten sie zu Dragan. Die Männer gehörten zu einer paramilitärischen Einheit, die sich Vukovi (Wölfe) nannte, angeführt von einem gewissen Veljko, den mein Vater ein paar Jahre zuvor aus einer Versammlung geworfen hatte, auf der über eine neue Wasserleitung diskutiert worden war. Veljko ging dann nach Österreich und verfolgte dort eine lukrative Karriere als Krimineller, kehrte aber rechtzeitig vor dem
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