Das Buch meiner Leben
Fernsehen verbreitet wurde. Tagelang weinte sie, Mek legte den Kopf in ihren Schoß und sah sie mit feuchten Setteraugen an. Er war ihr einziger Freund und Vertrauter. Jeden Tag musste sie aufs Neue erkennen, dass sie alles verloren hatten, wofür sie zeitlebens gearbeitet hatten. Geblieben war ihr nur noch der prachtvolle Irish Setter.
In der Einzimmerwohnung in Novi Sad hielten sich oft bosnische Flüchtlinge auf, Freunde von Freunden oder entfernte Verwandte, die meine Eltern aufnahmen, bis die Unglücklichen es nach Deutschland oder Frankreich oder in ein anderes Land schafften, wo sie nicht erwünscht waren. Alle schliefen auf dem Fußboden, meine Mutter stieg über die Schlafenden hinweg, wenn sie auf die Toilette musste, Mek immer hinterdrein. Er ließ die Flüchtlinge in Ruhe, bellte nie, ließ sich von den Kindern streicheln.
Ungestümer junger Hund, der er war, hatte er ständig Zoff mit anderen Hunden. Als meine Mutter einmal mit ihm nach draußen ging, geriet er an einen bösartigen Rottweiler. Dummerweise versuchte sie, die beiden Raufbolde zu trennen, woraufhin der Rottweiler ihr in die Hand biss. Kristina, die zufällig anwesend war, brachte Mutter zur Notaufnahme, wo man ihre Wunde aber nicht versorgen konnte. Die Ärzte gaben meiner Mutter die Adresse eines Kollegen, der ihr für Geld Verbandszeug und eine Tetanusspritze geben würde. Für die Heimfahrt reichte das Geld nicht mehr, worauf der Taxifahrer erklärte, er werde den Rest am nächsten Tag abholen. Meine Schwester sagte ganz unverblümt, dass er sich das sparen könne, denn auch morgen oder übermorgen würden sie kein Geld haben. (Der Taxifahrer verzichtete darauf, es einzutreiben. Die Inflation in Serbien lag bei etwa 300 Prozent täglich, das Geld wäre am nächsten Tag ohnehin wertlos gewesen.) Noch Jahre später konnte meine Mutter ihre Hand nicht richtig bewegen, und Mek flippte schier aus, sobald er in der Gegend einen Rottweiler auch nur roch.
Im Herbst 1993 hatten meine Eltern und meine Schwester schließlich alle Papiere für Kanada samt Flugtickets beisammen. Verwandte und Freunde kamen, sich zu verabschieden, und allen war klar, dass sie einander nie mehr sehen würden. Es flossen viele Tränen, wie bei einer Beerdigung. Mek spürte, dass etwas bevorstand. Nie ließ er Mutter und Vater aus den Augen, als befürchtete er, alleingelassen zu werden. Er war besonders anschmiegsam, suchte ihre Nähe, wenn er sich ausstreckte, oder legte den Kopf in ihren Schoß. Mein Vater fand das zwar sehr rührend, aber mitnehmen nach Kanada wollte er ihn nicht – er wusste ja nicht, was sie dort erwartete, wo sie unterkommen würden, ob sie sich eine Existenz würden aufbauen und zugleich um einen Hund würden kümmern können. Für meine Mutter war ein Leben in Kanada ohne Mek einfach nicht vorstellbar, schon bei dem Gedanken, ihn wildfremden Leuten zu übergeben, brach sie in Tränen aus.
Veba heiratete dann und zog mit seiner Frau um. Don blieb bei Vebas Mutter und Bruder, weil Veba immer lange Zeit außer Haus war, und auch seine Frau, die beim Roten Kreuz arbeitete, war oft längere Zeit unterwegs. Als Assistentin eines Roten-Kreuz-Delegierten stellte sie während einer Inspektion eines bosnischen Kriegsgefangenenlagers fest, dass Vebas Vater am Leben war. Seit Vlado bei Kriegsausbruch nicht mehr nach Hause gekommen war, sprang Don bei der Frage » Wo ist Vlado? « immer an dem Garderobenständer hoch, an dem der Vater seine Uniform aufgehängt hatte. Ć ika Vlado wurde bei Kriegsende entlassen, aber Don hat ihn nie mehr gesehen.
Ich hörte nur unregelmäßig von Veba und seiner Familie – ein Brief, den er einem befreundeten Ausländer mitgab, ein Anruf mitten in der Nacht per Satellitentelefon, ermöglicht von einem Freund, der für eine ausländische Nachrichtenagentur arbeitete. Während der Belagerung waren die normalen Telefonverbindungen meist tot, aber gelegentlich funktionierten sie unerklärlicherweise, so dass ich immer wieder auf gut Glück versuchte, Veba zu erreichen. Eines Nachts probierte ich es mal wieder von Chicago aus, in Sarajevo war früher Morgen, aber Vebas Mutter nahm sofort ab. Sie schluchzte so herzzerreißend, dass ich sofort dachte, Veba sei tot. Seine Mutter beruhigte sich etwas und sagte, Veba gehe es gut, aber Don sei vergiftet worden. Die ganze Nacht habe er furchtbare Schmerzen gehabt und gelben Schleim gewürgt, kurz vor meinem Anruf sei er gestorben. Veba war ebenfalls da. Er war, nachdem man ihm
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