Das Buch meiner Leben
errichtet, in den Bergen ringsum fielen immer wieder Schüsse. Im April schossen Karad ž i ć ’ Scharfschützen auf eine friedliche Demonstration vor dem Parlament, zwei Frauen starben. Am 2. Mai wurde Sarajevo von der übrigen Welt abgeschnitten, und es begann die längste Belagerung in der modernen Geschichte. Am Ende des Sommers waren fast überall auf der Welt Fotos von einem serbischen Todeslager veröffentlicht worden. Inzwischen war mir klar, dass Karad ž i ć dem bosnischen Parlament seinerzeit mit der Vernichtung der bosnischen Muslime gedroht hatte – das war die Peitsche, aber das Zuckerbrot war das nackte Überleben. Im Grunde hatte er gesagt: » Zwingt mich nicht dazu, denn ich werde kein Problem damit haben, euch die Hölle auf Erden zu bereiten. «
Heute steht für mich außer Frage, dass Karad ž i ć , unabhängig vom Ausgang der Parlamentssitzung, in jedem Fall mit seinem Autokonvoi in Richtung Hölle und Elend brausen wollte. Was ich damals nicht verstanden habe, ist mir heute klar: dass es zu Krieg kommen würde, stand schon längst fest. Die Vernichtungsmaschinerie war schon angeworfen, alles war vorbereitet für den Genozid, dessen Ziel nicht bloß die Vernichtung und Vertreibung der bosnischen Muslime war, sondern auch der Zusammenschluss der ethnisch gesäuberten Regionen zu einem Groß-Serbien. Warum dieser Auftritt vor dem Parlament, wenn Frieden gar nicht zur Debatte stand? Warum?
Ich habe lange versucht zu begreifen, warum alles, was ich kannte und was mir lieb war, auf so brutale Weise zerstört wurde. Ich habe alle Details zusammengetragen, um zu verstehen, wie es zu der Katastrophe kommen konnte. Nach Karadži ć ’ Verhaftung habe ich mir das YouTube - Video angesehen, um seinen Auftritt zu verstehen. Heute weiß ich – der Zweck seines Auftritts war der Auftritt selbst. Er richtete sich nicht an das bosnische Parlament, sondern an die patriotischen Serben, die vor dem Fernseher saßen, all jene, die bereit waren, ein gigantisches Projekt in Angriff zu nehmen, dessen Vollendung Opfer, Mord und ethnische Säuberung verlangen würde. Karadžić demonstrierte seinen Leuten, dass er so hart und entschlossen war, wie ein Anführer sein musste, aber eben keineswegs dumm oder unvernünftig. Er deutete an, dass Krieg keine übereilte Entscheidung von seiner Seite wäre, aber ihm war klar, dass Genozid wohl unausweichlich war. Wenn es einen schwierigen Job zu erledigen gäbe, dann wäre er es, der das gnadenlos und bedenkenlos tun würde. Er würde sein Volk durch die Kriegshölle in das Land führen, in dem Ehre und Erlösung warteten.
Karadži ć ’ Vorbild war der Bergkranz ( Gorski vijenac ), jenes berühmte Epos von Petar Petrović Njegoš. Wir hatten es in der Schule lernen müssen, weil es zum sozialistischen Kanon gehörte. Es war leicht zu interpretieren, wenn man sich an das offizielle Geschichtsbild des titoistischen Jugoslawien hielt. Das im ausgehenden siebzehnten Jahrhundert angesiedelte und 1847 veröffentlichte Werk ist tief verwurzelt in der Tradition der epischen Lyrik Serbiens und ein Grundlagentext des serbischen Nationalismus, den ich immer furchtbar langweilig gefunden habe. Hauptfigur ist Vladika Danilo, Fürstbischof von Montenegro, dem einzigen serbischen Territorium, das von den mächtigen Osmanen nie erobert wurde. Vladika Danilo hat ein großes Problem: Einige Montenegriner Serben sind zum Islam übergetreten. Für ihn sind sie die Fünfte Kolonne der Türken, denen man noch nie trauen konnte, eine unablässige Bedrohung für die Freiheit und Souveränität der Serben.
Weiser Herrscher, der er ist, beruft Vladika Danilo eine Ratsversammlung ein, die ihm bei der Suche nach einer Lösung helfen soll. Er lauscht den Empfehlungen diverser blutrünstiger Krieger: » Ohne Leid wird kein Lied gesungen « , ruft einer. » Ohne Leid wird kein Säbel geschmiedet. « Vladika Danilo empfängt eine Abordnung von Muslimen, die um Frieden und Koexistenz und so weiter bitten. Sie sollen aber nur leben dürfen, wenn sie » zum Glauben der Ahnen zurückkehren « . Er spricht von Freiheit und den schwierigen Entscheidungen, die zu ihrem Schutz notwendig sind: » Der Wolf hat auf das Schaf ein Anrecht / Wie der Tyrann auf schwache Menschen / Doch den Tyrannen in den Nacken treten, ihn zwingen zu des Rechts Erkenntnis, ist des Menschen heiligste Verpflichtung. «
Schließlich erkennt Vladika Danilo, dass die totale, absolute Vernichtung der Muslime die einzige Möglichkeit
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