Das Buch meiner Leben
Bescheid gesagt hatte, mitten in der Nacht, trotz Ausgangssperre, unter Lebensgefahr losgeradelt und hatte es gerade noch geschafft, Don in seinen letzten Minuten in den Armen zu halten. Veba weinte mit mir am Telefon. Ich fand keine Worte, ich wusste nie, wie ich meine Freunde im belagerten Sarajevo trösten konnte. Veba wickelte Don in eine Decke, trug ihn die fünfzehn Stockwerke hinunter und begrub ihn zusammen mit seinem geliebten Tennisball hinter dem Haus.
Mein Vater ahnte, wie untröstlich meine Mutter ohne Mek sein würde, und lenkte schließlich ein. Im Dezember 1993 trafen meine Eltern, meine Schwester und Mek in Kanada ein. Ich fuhr sofort von Chicago aus los, um sie zu begrüßen. Kaum stand ich in der Tür ihrer spärlich möblierten Wohnung in Hamilton (Ontario), kam Mek fröhlich auf mich zugelaufen. Nach fast drei Jahren erinnerte er sich noch an mich! Ich hatte schon lange das Gefühl, dass große Teile meines Sarajevo-Ichs nicht mehr existierten, aber als Mek die Schnauze in meinen Schoß legte, wurde vieles wieder lebendig.
Mek hatte ein schönes Leben in Hamilton. Meine Mutter sagte immer, er sei ein » Glückspilz « . 2007 starb er mit siebzehn Jahren. Sich einen anderen Hund zuzulegen kam für meine Eltern überhaupt nicht in Frage. Mittlerweile vertraut sich meine Mutter einem Wellensittich an, und wenn Mek erwähnt wird, bricht sie jedes Mal in Tränen aus.
Veba kam 1998 nach Kanada. Er lebt mit seiner Frau und den Kindern in Montreal. Jahrelang wollte er keinen Hund mehr haben, aber inzwischen haben sie einen hübschen Husky-Mischling namens Kahlua. Meine Schwester lebt in London. Sie hat seit Mek keinen Hund mehr. Und ich habe eine Frau geheiratet, in deren Leben es immer einen Hund gegeben hat. Wir haben inzwischen einen Rhodesian Ridgeback namens Billie.
Das Buch meines Lebens
Professor Nikola Koljević hatte lange, schlanke Pianistenfinger. Er war Professor für Literatur – in den späten Achtzigern hatte ich an der Universität Sarajevo bei ihm studiert –, doch als junger Mann hatte er in Belgrad als Barpianist sein Studium finanziert. Sogar in einem Zirkusorchester hatte er mitgespielt – ich stellte mir vor, wie er am Rand der Arena saß, vor sich über den Tasten ein Buch mit Shakespeare-Tragödien, wie er sich die Finger massierte, die Löwen nicht beachtete und auf den Auftritt der Clowns wartete.
Professor Koljević hielt ein Seminar über Dichtung und Literaturkritik, in dem wir mit kritischem Blick Lyrik analysierten – Cleanth Brooks, Vertreter des New Criticism, war sein Schutzheiliger. Wir lernten, die einem literarischen Werk innewohnenden Eigenschaften zu analysieren, losgelöst von politischen, biografischen oder anderen äußeren Einflüssen. Die meisten Dozenten hielten ihre Vorlesungen leidenschaftslos, fast unbeteiligt, besessen von den Dämonen akademischer Langeweile. Wir wurden nicht gefordert. Doch bei Professor Koljević packten wir Gedichte wie Weihnachtsgeschenke aus, und das kleine, stickige Zimmer im obersten Stockwerk der Philosophischen Fakultät war erfüllt von der Begeisterung gemeinsamer Entdeckungen.
Der Mann war unglaublich belesen. Oft zitierte er Shakespeare auswendig, was mich jedes Mal beeindruckte. Auch ich wollte einmal alles gelesen haben und mühelos aus dem Gedächtnis abrufen können. Koljević hielt auch ein Seminar über die Kunst des Essays – das war der einzige Schreibkurs, den ich je besucht habe. Wir lasen die klassischen Essayisten, angefangen bei Montaigne, und versuchten dann, ein paar hochtrabende Gedanken zu formulieren, brachten aber nur verunglückte Imitationen zustande. Trotzdem schmeichelte es uns, dass er überhaupt glaubte, wir könnten etwas schreiben, was der Montaigne’schen Welt nahekäme. Wir fühlten uns persönlich eingeladen, Teil des feinsinnigen, durchgeistigten Literaturbetriebs zu werden.
Einmal erzählte uns Professor Koljević von dem Buch, das seine Tochter als Fünfjährige zu schreiben begonnen hatte. Es hieß » Buch meines Lebens « , aber über das erste Kapitel war sie nicht hinausgekommen. Mit dem zweiten Kapitel, sagte er, wolle sie noch warten, bis sie etwas mehr Lebenserfahrung gesammelt habe. Wir, die wir noch in den Anfängen steckten, die wir die katastrophalen Plots, die sich um uns zusammenbrauten, nicht einmal erahnten – wir lachten.
Nach der Abschlussprüfung rief ich Professor Koljević an, um mich dafür zu bedanken, dass er mir eine Welt eröffnet hatte, die durch Lesen
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