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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Heamon
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der Kunst vor dem Bösen verstecken könnte. Vermutlich dank Professor Koljević ist mein Schreiben erfüllt von heftiger Abscheu gegenüber bürgerlichem Geschwafel und leider auch von hilflosem Zorn, den ich nicht loswerde.
    Gegen Kriegsende überwarf sich Professor Koljević mit Karadžić und wurde aus dem Machtzentrum verbannt. Er begann zu trinken, gab ausländischen Journalisten gelegentlich Interviews, in denen er sich über das Unrecht beklagte, das dem serbischen Volk im Allgemeinen und ihm persönlich im Besonderen zugefügt worden sei. 1997 pustete er sich sein shakespeareschweres Gehirn aus dem Kopf. Er musste zweimal schießen, seine langen Klavierspielerfinger hatten beim ersten Mal wohl gezittert.

Leben eines Flaneurs
    Im Frühling 1997 flog ich von Chicago, meiner neuen Heimat, nach Sarajevo, meiner alten Heimat. Es war mein erster Besuch in Sarajevo seit dem Ende des Bosnien-Kriegs. Kurz vor Beginn der Belagerung war ich weggegangen. Ich hatte keine Familienangehörigen mehr in Sarajevo (meine Eltern und meine Schwester lebten inzwischen in Kanada), abgesehen von Teta Jozefina, die für mich wie eine Großmutter war. Als meine Eltern 1963 frisch von der Belgrader Universität nach Sarajevo gegangen waren, hatten sie im Stadtteil Marin Dvor bei Jozefina und ihrem Mann Martin ein Zimmer gemietet. Dort wurde ich gezeugt, und dort verbrachte ich die ersten beiden Lebensjahre. Teta Jozefina und Ć ika Martin, damals Eltern von zwei halbwüchsigen Jugendlichen, behandelten mich wie ein leibliches Enkelkind – und meine Mutter findet noch heute, dass sie mich verzogen haben. Wir zogen dann in eine andere Gegend von Sarajevo, und eine Zeitlang musste man mich fast jeden Tag nach Marin Dvor bringen, weil ich die beiden besuchen wollte. Bis zu dem Tag, als der Krieg unser gemeinsames Leben zerstörte, verbrachten wir jedes Weihnachtsfest bei Teta Jozefina und Ćika Martin. Jedes Jahr dasselbe Ritual, die gleichen üppigen Speisen auf dem großen Tisch, der gleiche schwere herzegowinische Wein, dieselben Leute, die dieselben Witze und Geschichten erzählten, auch jene, wie ich als Kleinkind vor dem abendlichen Waschen nackt auf dem Flur herumrenne.
    Ćika Martin starb kurz vor Ende der Belagerung an einem Herzinfarkt. Als ich Teta Jozefina 1997 besuchte, lebte sie allein. Ich wohnte bei ihr, in dem Zimmer (und möglicherweise in demselben Bett), in dem mein chaotisches Leben seinen Anfang genommen hatte. Die Wände waren von Einschüssen gezeichnet, denn das Haus befand sich direkt in der Schusslinie eines serbischen Scharfschützen auf der anderen Seite des Flusses. Teta Jozefina war eine fromme Katholikin, die sich ihren Glauben an das Gute im Menschen bewahrt hatte, obwohl einen überall das Gegenteil ansprang. Sie fand, der Scharfschütze sei im Grunde ein guter Mensch gewesen, weil er während der Belagerung über sie hinweggeschossen und ihr damit zu verstehen gegeben habe, dass er sie sehen könne, sie sich in der Wohnung also nicht so unvorsichtig bewegen solle.
    In den ersten Tagen nach meiner Ankunft hörte ich mir Teta Jozefinas herzzerreißende Berichte von der Belagerung an, auch den Tod ihres Mannes schilderte sie mir detailliert (wo er gesessen, was er gesagt hatte, wie er in sich zusammengesunken war), und ansonsten streifte ich durch die Stadt. Ich versuchte, das neue Sarajevo mit dem alten in Einklang zu bringen, in dem ich früher gelebt hatte. Die Folgen der Belagerung erschlossen sich mir nicht sofort, denn es war nicht so, als hätte sich das eine einfach in etwas anderes verwandelt. Alles war anders und doch genauso wie früher. Unser altes Zimmer (und vielleicht auch das Bett) war dasselbe, die Häuser standen noch immer am selben Ort, die Brücken überquerten den Fluss an derselben Stelle, die Straßen folgten derselben undurchschaubaren, aber vertrauten Logik, die Geographie der Stadt war unverändert. Aber das Zimmer wies Spuren der Belagerung auf, die Häuser hatten Einschusslöcher oder waren halbe Ruinen. Da der Fluss die Front gewesen war, waren einige Brücken zerstört und die Umgebung praktisch dem Erdboden gleichgemacht, die Straßen von Einschlägen gezeichnet – strahlenförmig von einem kleinen Krater ausgehende Linien, die eine Künstlergruppe mit roter Farbe ausgemalt hatte und die bei den Leuten, kaum zu glauben, nun » Rosen « hießen.
    Ich besuchte all die vertrauten Orte im Zentrum und ging dann durch schmale Straßen hinauf in die höhergelegenen Viertel,

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