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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Heamon
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hinter denen sich eine grüne Welt unkartierter Minenfelder erstreckte. Ich betrat unbekannte Hauseingänge, nur um zu sehen, wie es dort roch. Neben dem vertrauten Geruch von Lederkoffern, Altpapier und feuchtem Kohlestaub stieg mir der Gestank von Elend und Urin in die Nase – während der Belagerung hatten sich die Leute in ihren Kellern vor den Granatenangriffen in Sicherheit gebracht. Ich saß in Kaffeehäusern und trank Kaffee, der anders schmeckte als vor dem Krieg – nach Zichorie. Als Bosnier in Chicago hatte ich bereits eine Form von Heimatlosigkeit erfahren, aber dies war etwas anderes: Ich war heimatlos an einem Ort, der einmal meine Heimat gewesen war. In Sarajevo war alles schmerzhaft vertraut und zugleich gespenstisch fern.
    Eines Tages schlenderte ich ziellos und unruhig die ehemalige Ulica JNA (Straße der Jugoslawischen Volksarmee) entlang, die nun Ulica Branilaca Sarajeva (Straße der Verteidiger Sarajevos) hieß. Als ich an dem Gebäude vorbeikam, das in geradezu prähistorisch anmutenden Zeiten die Arbeiteruniversität ( radnićki univerzitet ) gewesen war, blieb ich aus irgendeinem Grund stehen und warf über die Schulter einen Blick in den gewölbeartigen Eingang. Das war keine bewusste Handlung, mein Kopf drehte sich wie von allein, während mein Ich noch ein, zwei Schritte weiterging. Verwirrt stand ich vor der ehemaligen Arbeiteruniversität, war den Passanten im Weg, bis mir klar wurde, warum ich mich umgedreht hatte. In der Arbeiteruniversität war ein Kino gewesen (zwei Jahre vor dem Krieg war es geschlossen worden), und jedes Mal, wenn ich damals vorbeikam, blieb ich vor den Schaukästen stehen, in denen die Filmplakate aushingen und die Vorführungszeiten vermerkt waren. Dunkel erinnerte sich mein Körper an die Bewegung des Stehenbleibens und Hinschauens. Er hatte gelernt, auf den Reiz in Gestalt eines neuen Kinoplakats zu reagieren, und konnte das Gelernte noch immer abrufen, so wie er sich, in tiefes Wasser geworfen, an die Schwimmbewegungen erinnerte. Es war eine banale Proust’sche Erinnerung: Einmal hatte ich mir im Kino der Arbeiteruniversität Sergio Leones Es war einmal in Amerika angesehen, und plötzlich erinnerte ich mich an den scharfen Desinfektionsgeruch, an die klebrigen Kunstledersitze und an das Rattern des sich öffnenden Vorhangs.
    Am 24. Januar 1992 hatte ich Sarajevo mit Ziel Amerika verlassen. Ich konnte damals nicht wissen, dass ich die Stadt erst als Emigrant wiedersehen würde. Ich war siebenundzwanzig(-einhalb), hatte noch nie woanders gelebt und wollte auch nirgendwo anders leben. Die letzten Jahre zuvor hatte ich als Journalist in der sogenannten » Jugendpresse « ( omladinska štampa ) gearbeitet, die etwas mehr Freiheiten genoss als die in der Druckkammer des titoistischen Einparteienstaats herangezüchteten Mainstream-Medien. Zuletzt hatte ich als Kulturredakteur der Zeitung Naši dani gearbeitet. (Vor dem Krieg war der Kulturteil eine Domäne, die Zuflucht vor der zunehmend hasserfüllten Welt der Politik bot. Wenn ich heute das Wort Kultur höre, greife ich zu dem Zitat, das üblicherweise Hermann Göring zugeschrieben wird: » Wenn ich das Wort Kultur höre, greife ich zu meinem Revolver. « ) Ich schrieb Filmbesprechungen, aber bekannter war meine Kolumne » Sarajevo Republika « . Dieser Titel war eine Anspielung auf die mediterranen Renaissance-Stadtstaaten (Dubrovnik oder Venedig) und auf » Kosovo Republika « , jene Parole der Irredentisten, die für das Kosovo den Status einer gleichberechtigten Republik innerhalb der jugoslawischen Föderation forderten. Mit anderen Worten, ich war ein militanter Sarajevoer. Ich unterstrich in meiner Kolumne die Einzigartigkeit Sarajevos, seine geistige Unabhängigkeit, reproduzierte seine Mythologie in einer Sprache voll abstruser Slangausdrücke. Meine erste Kolumne beschäftigte sich mit einer aš č inica – einem traditionellen bosnischen Lokal, in dem die Speisen gekocht und nicht auf dem Grill zubereitet wurden. Dieses Lokal war seit rund hundertfünfzig Jahren im Besitz der Hadžibajrićs, einer ortsansässigen Familie. Der Legende zufolge soll während der Dreharbeiten zum Film The Battle of Sutjeska (einem Partisanenspektakel mit Richard Burton als Tito) ein Hubschrauber der Jugoslawischen Volksarmee häufig an den Drehort in den ostbosnischen Bergen geflogen sein, um Elizabeth Taylor mit den speziellen bured ž icis (gefüllte Blätterteigtaschen) der Hadžibajrićs zu versorgen. Bis heute sind

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