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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Heamon
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viele von uns stolz darauf, dass Sarajevo zu den Rundungen von Purple Eyes beigetragen hat.
    In den nächsten Kolumnen ging es um den barocken Sarajevoer Slang, um die vielen aufwendigen Strategien zur Reproduktion der urbanen Mythologie, die ich täglich in ungezählten kafanas praktizierte, um die Glücksspielhallen, Treffpunkte von Losern, Schnorrern und jungen Leuten, die sich einen Anstrich von Coolness geben wollten. In einer Kolumne beschäftigte ich mich mit der Vase-Miskina-Straße (seit dem Fall des Sozialismus in Ferhadija umbenannt), die vom Stadtzentrum in die Altstadt führt. Ich bezeichnete sie als die Hauptschlagader der Stadt, weil viele Sarajevoer mindestens zweimal täglich dort entlanggingen und den urbanen Blutkreislauf aufrechterhielten. Wenn man lange genug in einem der kafanas an der Vase Miskina saß, kam letztlich die ganze Stadt an einem vorbeispaziert. Anfang der neunziger Jahre boten dort fliegende Händler den billigen Ramsch des heruntergewirtschafteten Arbeiterstaats feil – Nähmaschinennadeln, Schraubenzieher und Russisch-Wörterbücher. Heutzutage ist es importierter Plunder aus Billiglohnländern – raubgepresste DVD s, chinesisches Plastikspielzeug, Wunderarzneien und geheimnisvolle Potenzmittel.
    Ich wanderte durch die Stadt auf der Suche nach Ideen und Anregungen. Ich weiß nicht, ob ich das Wort damals verwendet hätte, aber heute sehe ich mich als Baudelair’scher Flaneur, der ziellos herumstreifte und auf diese Weise mit der Stadt kommunizierte. Sarajevo war und ist eine kleine Stadt, erfüllt von Geschichte und Geschichten und von Leuten, die ich kannte und gernhatte und die ich von meinem Beobachtungsposten im kafana oder unterwegs in den Straßen sehen konnte. Während ich das Mündungsdelta der Vase Miskina betrachtete oder die dunklen steilen Gassen, standen mir schon ganze Artikel vor Augen. Oft packte mich die schiere Lust. Die Stadt bot sich mir dar, ihr Anblick stimulierte Körper und Geist. Dass mein Kaffeekonsum infarktförderliche Ausmaße annahm, gehörte dazu – was für Baudelaire Wein und Opium, waren für mich Kaffee und Zigaretten.
    Ich betrat, genau wie dann 1997, Häuser, nur um festzustellen, wie es in den Fluren roch, und studierte die ausgetretenen Steinstufen. Ich ging an spielfreien Tagen in das leere Ž eljo-Stadion, hörte den Rentnern zu, die, seit Ewigkeiten im Besitz einer Jahreskarte, ihre nostalgischen Runden drehten und über herzzerreißende Niederlagen und die erstaunlichsten Siege diskutierten. Ich kehrte an vertraute Orte zurück, um sie anders zu erleben und Einzelheiten wahrzunehmen, die mir eben wegen dieser großen Vertrautheit bislang verborgen geblieben waren. Ich sammelte Eindrücke, Gesichter, Gerüche, Szenen, nahm die Stadt und ihr Erscheinungsbild ganz in mich auf. Allmählich erkannte ich, dass mein Inneres und das Äußere unauflöslich miteinander verbunden waren. Ich war physisch und metaphysisch verortet. Wenn Freunde mich irgendwo bemerkten, wie ich die für die k. u. k. Architektur typischen hohen Friese betrachtete oder auf einer Parkbank saß, den Hunden zusah und den Liebespaaren – mich also auf eine Weise verhielt, die besorgniserregend erscheinen mochte –, gingen sie davon aus, dass ich für eine Kolumne recherchierte. Meist stimmte das auch.
    Trotz meiner grandiosen Pläne waren es am Ende nur sechs, sieben » Sarajevo Republika « -Kolumnen, bis Naši dani wegen finanzieller Probleme eingestellt wurde – was wegen der gleichzeitigen Auflösung Jugoslawiens nicht weiter auffiel. Im Sommer 1991 wurde aus Scharmützeln im benachbarten Kroatien ein richtiger Krieg, und man redete davon, dass die Armee insgeheim Soldaten und Waffen in mehrheitlich serbisch bewohnte Teile Bosniens verlegte. Der Sarajevoer Tageszeitung Oslobodjenje wurde ein Dokument über die Verlegung von Truppen nach Bosnien-Herzegowina zugespielt, das eindeutig auf einen unmittelbar bevorstehenden Krieg verwies, auch wenn die Militärführung solche Pläne vehement bestritt.
    Ihre Sprecher waren nicht die Einzigen, die die unübersehbare Wahrscheinlichkeit eines Krieges leugneten – auch die Einwohner von Sarajevo ignorierten das Offensichtliche, wenngleich aus anderen Gründen. Im Sommer 1991 waren Partys, Sex und Drogen an der Tagesordnung, das Lachen hysterisch, die Straßen Tag und Nacht belebt. Im verführerischen Schein der unausweichlichen Katastrophe erschien die Stadt schöner denn je. Im September war die aufwendige Praxis des

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