Das Buch meiner Leben
Nicht-wahrhaben - Wollens kaum mehr möglich. Noch immer streifte ich regelmäßig durch die Stadt, aber beunruhigend oft überlegte ich, welche Gebäude wohl geeignete Positionen für Scharfschützen abgeben würden. Dass ich mir schon ausmalte, wie ich vor den Schüssen in Deckung ging, deutete ich als paranoides Stresssymptom, hervorgerufen durch die allgemeine Kriegstreiberei. Heute weiß ich, dass ich mir Zwischenfälle vorstellte, da ich mir Krieg in all seiner Wucht nicht vorstellen konnte, so wie ein junger Mensch sich Krankheitssymptome vorstellen kann, nicht aber den Tod. Das Leben ist einfach viel zu intensiv und gegenwärtig.
Heutzutage ist der Tod in Sarajevo mühelos vorstellbar und gegenwärtig, aber damals lebte die Stadt – schön und unsterblich, eine unzerstörbare Republik von urbanem Geist – in mir und außerhalb von mir. Ihre Wahrnehmbarkeit, ihre Konkretheit widersetzte sich den Abstraktionen des Krieges. Seither habe ich gelernt, dass Krieg das Allerkonkreteste ist, eine irrsinnige Realität, die alles überlagert und das Innen und Außen dem Erdboden gleichmacht.
Im Frühsommer 1991 ging ich eines Tages zum American Cultural Center in Sarajevo, wo geklärt werden sollte, ob ich für das Kulturaustauschprogramm in Frage käme, das von der damaligen US Information Agency betrieben wurde – einer Spionageabteilung, wie ich hoffte, deren Mitarbeiter sich als Kulturfreunde tarnten. Für einen Amerika-Aufenthalt überhaupt in Betracht gezogen zu werden war natürlich schmeichelhaft, weil man schon taubstumm und blind und komatös sein musste, um im damaligen Sarajevo nichts von amerikanischer Kultur mitzubekommen. Als ich 1983 Abitur machte, war Apocalypse Now mein Lieblingsfilm. Ich verehrte Patti Smith, die Talking Heads und das Fernsehen, und der New Yorker Punk-Club CBGB war für mich, was Jerusalem für einen frommen Gläubigen war. Ich imitierte Holden Caulfields Ausdrucksweise (in der serbokroatischen Fassung) und brachte meinen ahnungslosen Vater dazu, mir zum Geburtstag ein Buch von Bukowski zu schenken. Als ich 1990 mein Studium beendete, konnte ich mit meiner Schwester Dialoge (in miserablem Englisch) aus His Girl Friday aufsagen. Ich ärgerte mich, wenn jemand nicht verstand, was für ein Genie Brian De Palma war. Ich konnte die zornigen Texte von Public Enemy zitieren und hörte pausenlos Sonic Youth und die Swans. Ich las andächtig Anthologien mit amerikanischen Kurzgeschichten, in denen Barth und Barthelme eine herausragende Rolle spielten. Barths berühmten Essay hatte ich zwar nicht gelesen, aber das mit der Literatur der Erschöpfung fand ich sehr cool. Ich schrieb einen Aufsatz über Bret Easton Ellis und den Kapitalismus.
Ich sprach mit dem Leiter des Kulturzentrums, wir plauderten über dies und jenes (hauptsächlich jenes), und dann ging ich wieder nach Hause. Ich glaubte nicht, dass aus meiner Amerikareise je etwas würde, und hatte auch nicht den Eindruck, ernsthaft geprüft worden zu sein. Doch sosehr ich mich für die amerikanische Kultur auch begeisterte, im Grunde war es mir nicht so wichtig. Selbst wenn ich mich gern eine Weile in Amerika herumgetrieben hätte, eigentlich wollte ich gar nicht weg aus Sarajevo. Ich liebte meine Stadt, ich wollte meinen Kindern und Enkelkindern von Sarajevo erzählen, wollte dort alt werden und sterben. Ungefähr in dieser Zeit hatte ich ein Verhältnis mit einer jungen Frau, die unbedingt ins Ausland wollte, weil sie fand, dass sie nicht nach Sarajevo gehörte. » Entscheidend ist nicht, wohin du gehörst, sondern was dir gehört « , erklärte ich ihr, wahrscheinlich ein Spruch, den ich in irgendeinem Film aufgeschnappt hatte. Ich war siebenundzwanzig(-einhalb), und Sarajevo gehörte mir.
Ich hatte die sommerliche Plauderei schon längst vergessen, als mir das Kulturzentrum Anfang Dezember mitteilte, dass man mich für einen einmonatigen Amerika-Aufenthalt ausgewählt habe. Ermüdet von der zunehmenden Kriegshetzerei, nahm ich die Einladung an. Der Abstand werde mir guttun, sagte ich mir. Ich wollte durch die USA reisen und abschließend in Chicago einen alten Freund besuchen. Am 14. März 1992 landete ich in Chicago. Ich erinnere mich an einen klaren, sonnigen Tag. Während der Fahrt vom Flughafen in die Stadt sah ich zum ersten Mal die Skyline von Chicago, eine riesengroße, weite, geometrische Stadt, die sich eher dunkel als smaragdgrün vor dem blauen Firmament abzeichnete.
Inzwischen standen Einheiten der Jugoslawischen
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