Das Buch meiner Leben
erobert werden konnte. Einen Professor anzurufen, eine Respektsperson, der man mit Ehrfurcht begegnete, war ziemlich mutig für einen Studenten, doch er fand nichts dabei. Er lud mich zu einem Abendspaziergang an der Miljacka ein, wie zwei Freunde plauderten wir über die Literatur und das Leben. Er legte mir dabei die Hand auf die Schulter, hielt sich an mir fest, denn ich war deutlich größer. Es war mir unangenehm, aber ich sagte nichts. Er hatte schmeichelhafterweise eine Linie überschritten, und ich wollte diese Nähe nicht zerstören.
Nicht lange nach unserem Spaziergang begann ich meine Tätigkeit in der Redaktion von Naši dani. Ungefähr in jener Zeit wurde Professor Koljević ein prominentes Mitglied der Serbischen Demokratischen Partei ( SDP ), einer extrem nationalistischen Organisation unter Führung des untalentierten Dichters Radovan Karadžić, der der meistgesuchte Kriegsverbrecher der Welt werden sollte. Ich berichtete über Pressekonferenzen der SDP , beobachtete Karadžić, seinen imposanten Kopf mit der wilden grauen Mähne, und verfolgte seine paranoiden, rassistischen Wutausbrüche. Und neben ihm saß Professor Koljević, klein, ernst und akademisch, mit großen Brillengläsern, Tweedjacke mit Wildlederflecken, die Ellbogen aufgestützt, die langen Finger locker aneinandergelegt wie zum Gebet oder Applaus. Anschließend trat ich zu ihm, um ihn höflich zu begrüßen, in der Annahme, dass uns die Liebe zu den Büchern noch immer verband. » Halt dich da raus « , sagte er. » Bleib bei der Literatur. «
Als 1992 der serbische Angriff auf Bosnien und die Belagerung von Sarajevo begannen, war ich bereits in Chicago in Sicherheit. Im Fernsehen sah ich, wie serbische Scharfschützen einem Mann in Knie und Fußgelenke schossen, der unter Granatbeschuss von einem Lastwagen sprang. Auf den Titelseiten der Zeitschriften sah ich ausgemergelte Männer in serbischen Gefangenenlagern und Menschen, die mit angsterfülltem Gesicht die Sniper Alley entlangrannten. Ich sah die Bibliothek von Sarajevo in geduldigen, zielstrebigen Flammen aufgehen.
Die infernalische Ironie, die darin lag, dass ein (schlechter) Dichter und ein Literaturprofessor für die Vernichtung von Hunderttausenden Büchern sorgten, entging mir keineswegs. In den Nachrichten sah ich Professor Koljević manchmal neben Karadžić stehen, der ständig irgendwelche Dinge bestritt – was auch passierte, für ihn war es entweder » Selbstverteidigung «, oder es war überhaupt nicht passiert. Professor Koljević wandte sich manchmal persönlich an die Journalisten, lachte, wenn nach Vergewaltigungscamps gefragt wurde, oder wies alle Anschuldigungen mit dem Argument zurück, dass solche Dinge leider in jedem » Bürgerkrieg « passierten. In Marcel Ophüls’ » The Troubles We ’ve Seen « , einer Dokumentation über ausländische Journalisten, die über den Bosnien-Krieg berichteten, spricht Professor Koljević – der » serbische Shakespeare-Experte « – mit einem BBC -Reporter, gibt in perfektem Englisch Plattitüden von sich und erklärt den Lärm serbischer Granaten, die im Hintergrund in Sarajevo explodieren, als Bestandteil der üblichen Feierlichkeiten zum orthodoxen Weihnachtsfest. » Dieser Brauch « , sagt er, » wird bei den Serben seit altersher gepflegt. « Er schmunzelt dabei und freut sich über seinen gelungenen Einfall. » Aber es ist doch noch längst nicht Weihnachten « , erwidert der BBC -Reporter.
Professor Koljević ließ mich nicht mehr los. Ich überlegte, wann mir seine extremistischen Ansichten erstmals aufgefallen waren. Schuldbewusst erinnerte ich mich an seine Vorlesungen und an unsere Gespräche, als stocherte ich in einem Aschehaufen herum, der Asche meiner Bibliothek. Ich versuchte, die Bücher und Gedichte, die mir so gefielen – von Emily Dickinson bis Danilo Kiš, von Frost bis Tolstoi –, aus meinem Gedächtnis zu tilgen, zu vergessen, wie er sie mir nahegebracht hatte, weil ich es hätte wissen, weil ich besser hätte aufpassen müssen. Ich hatte mich, beeindruckbar und ahnungslos, der Lektüre hingegeben, ohne zu ahnen, dass mein Lieblingslehrer bei der Planung eines gigantischen Verbrechens mitgemacht hatte. Aber was geschehen ist, ist geschehen.
Heute weiß ich, dass Koljevićs’ Unmenschlichkeit mein Leben weit mehr geprägt hat als seine literarische Vision. Ich löschte diesen wertvollen, jugendlichen Teil von mir, der geglaubt hatte, dass man die Geschichte ignorieren und sich mit Hilfe
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