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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Heamon
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Volksarmee in ganz Bosnien, gemäß dem Plan, den die Armee zuvor bestritten hatte. Überall wüteten serbische paramilitärische Gruppen. In Sarajevo wurden Barrikaden errichtet, es kam zu Schießereien. Anfang April wurde eine friedliche Kundgebung vor dem Parlament von Karadži ć ’ Scharfschützen beschossen. Auf der Vrbanja-Brücke wurden zwei Frauen getötet, nur hundert Meter von Teta Jozefinas Wohnung entfernt, möglicherweise von demselben braven Scharfschützen, der später die Wände des Zimmers durchsiebte, in dem ich gezeugt worden war. Am Stadtrand, in den Bergen, tobte bereits der Krieg, aber im Zentrum glaubten die Leute noch an ein baldiges Ende der Kämpfe. Wenn ich besorgt aus Chicago anrief, sagte meine Mutter nur: » Es wird schon weniger geschossen als gestern « – als wäre der Krieg ein Frühlingsregen.
    Mein Vater riet mir jedoch, in Chicago zu bleiben, in Sarajevo stünden die Dinge nicht zum Besten. Am 2. Mai sollte ich heimfliegen, doch angesichts der sich verschlimmernden Situation war ich hin- und hergerissen zwischen Schuldgefühlen und Sorgen um meine Eltern und Freunde und einer unvorstellbaren Zukunft in Amerika. Ich rang mit meinem Gewissen. Als Autor einer Kolumne mit dem Titel » Sarajevo Republika « hatte man eigentlich die Pflicht, heimzukehren und die Stadt und ihren Geist zu verteidigen.
    Währenddessen lief ich unablässig durch Chicago, als könnte ich meine Sorgen auf diese Weise loswerden. Ich suchte mir einen Film aus, den ich sehen wollte – um mich abzulenken, aber auch aus der professionellen Gewohnheit des alten Filmkritikers –, und lokalisierte dann mit Hilfe meines Freundes ein Kino, das den Film zeigte. Von Ukrainian Village, dem Viertel, wo ich untergekommen war, fuhr ich ein paar Stunden vor Vorstellungsbeginn los, kaufte ein Ticket und erkundete dann in konzentrischen Kreisen die Umgebung des Kinos. Mein erster Ausflug führte mich ins Esquire (das heute nicht mehr als Kino fungiert) in der Oak Street an der wohlhabenden Goldküste – das Esquire war mein Plymouth Rock. Gezeigt wurde Michael Apteds » Thunderheart « . Val Kilmer spielte darin einen indianischstämmigen FBI -Agenten, der eine Spur bis in ein Reservat verfolgt und sich daher gezwungen sieht, sich mit seiner eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Ich erinnere mich, dass der Film so schlecht war, wie er sich heute anhört, kann mich aber nicht mehr groß an Einzelheiten erinnern. Auch an meinen ersten Streifzug durch die Goldküste kann ich mich nicht mehr deutlich erinnern, weil dieses Viertel mit all den anderen verschwimmt, so wie der erste Schultag in der Gesamtheit der schulischen Erlebnisse aufgeht.
    Ich fuhr zu allen möglichen Kinos in Chicago und machte mich mit der Umgebung vertraut. Ich sah öfter schlechte Filme in sogenannten schlechten Vierteln, wo mir nie etwas Schlimmes passiert ist. Als Fußgänger hatte ich immer viel Platz, denn in diesen Vierteln waren nur wenige Leute auf der Straße. Wenn ich kein Geld für einen Kinobesuch hatte – meine Haupteinnahmequelle war das Kartenspiel Préférence, das ich meinen Freunden beigebracht hatte –, erkundete ich die kinolosen Gegenden Wicker Park, Bucktown oder Humboldt Park (wo Saul Bellow aufgewachsen war), die in der Nähe von Ukrainian Village lagen und, wie ich hörte, ein gefährliches Pflaster waren.
    Ich konnte nicht aufhören. Unentwegt streifte ich durch die Stadt, mit schmerzender Achillessehne, gequält von Sorgen und Heimweh, bis ich schließlich die Entscheidung traf: Ich würde nicht zurückkehren. Am 1. Mai flog ich nicht nach Hause. Am 2. Mai wurden in Sarajevo die Ausfallstraßen abgesperrt, der letzte Zug verließ (mit meinen Eltern) die Stadt, und es begann die längste Belagerung in der modernen Geschichte. Ich bat in Chicago um politisches Asyl. Der Rest ist der Rest meines Lebens.
    Auf meinen Streifzügen machte ich mich mit der Stadt vertraut, doch sie blieb mir fremd. Mein Bedürfnis, sie körperlich zu erfahren, in ihr heimisch zu werden, blieb unerfüllt. Mir ging es schlecht, weil mir nicht klar war, wie ich in Chicago ich sein konnte. Chicago war ganz anders organisiert als Sarajevo. (Jahre später stieß ich auf ein Bellow-Zitat, das meine damalige Befindlichkeit sehr gut zum Ausdruck brachte: » Chicago war nirgendwo. Es hatte keinen Rahmen. Es war einfach in den amerikanischen Raum hineingestellt worden. « ) Die Stadtlandschaft von Sarajevo war bevölkert von bekannten Gesichtern, erfüllt von

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