Das Buch meiner Leben
und seines jungen hübschen Freunds, der sich langweilte und beschwipst war. Ich flüchtete zu einem Paar, das einen wunderbaren Alphonse-Muha-Druck an der Wand hatte, nachdem der Nachbar mir sein Gewehr gezeigt hatte, das zu gebrauchen er wild entschlossen war. Ich diskutierte über die Helmpflicht mit ältlichen, wohlgenährten Motorradfahrern, darunter Veteranen, die in Vietnam für die Freiheit gekämpft hatten, sich auf amerikanischen Straßen die Birne zu Brei fahren zu lassen. Ich sah, wie meine schwarzen Kollegen wiederholt von Polizisten angehalten wurden, die ihr komisches Suburbia schützten.
Am liebsten waren mir, kein Wunder, die innerstädtischen Viertel Pullman, Beverly, Lakeview sowie die Parks – Hyde, Lincoln, Rogers. Allmählich wurde mir die Geographie von Chicagoland vertraut, in meinem Kopf entstand ein Stadtplan, Haus für Haus, Tür für Tür. Manchmal setzte ich mich vor der Arbeit in einen Diner, versuchte, mich mit dem nach verbranntem Getreide schmeckenden amerikanischen Kaffee anzufreunden, und beobachtete die Passanten, die Dealer an der Ecke, die freundlichen Ladys. Hin und wieder ließ ich die Arbeit überhaupt sein und streifte einfach durch das mir zugewiesene Viertel. Ich war ein fremder flanierender Niedriglohnjobber.
Gleichzeitig verfolgte ich aufmerksam die Fernsehbilder aus dem belagerten Sarajevo, versuchte, Gesichter und Orte zu erkennen, das Ausmaß der Zerstörung einzuschätzen. Ende Mai sah ich Bilder von einem Massaker auf der Vase Miskina, wo eine serbische Granate eine Menschenmenge traf und zahllose Tote forderte. Ich versuchte, auf dem Bildschirm die Leute zu erkennen, die in einer Blutlache lagen, mit zerfetzten Gliedmaßen, die Gesichter schreckensverzerrt, aber es gelang mir nicht. Ich hatte Mühe, überhaupt die Gegend wiederzuerkennen. Auf der Straße, die mir gehört und die ich frivolerweise als Hauptschlagader der Stadt bezeichnet hatte, floss nun das Blut derjenigen, die ich zurückgelassen hatte. Ich konnte nur die Dreißig-Sekunden-Clips auf Headline News immer wieder anschauen.
Selbst in der Ferne wurde mir klar, wie sehr sich meine Heimatstadt verändert hatte. Die Straße, die mein Viertel (Socijalno) mit dem Zentrum verband, hieß nun Sniper Alley. Das Ž eljo-Stadion, wo ich die Gespräche der Rentner mitangehört hatte, war nun in serbischer Hand, die Tribünen abgebrannt. Die kleine Bäckerei in Kova ć i, in der es das beste somun (Fladenbrot) von ganz Sarajevo und daher von der ganzen Welt gab, war ebenfalls niedergebrannt. Das Museum der Winterolympiade 1984, das in einem schönen alten k. u. k.-Gebäude von keinerlei strategischem Wert untergebracht war, wurde mit Granaten beschossen (und liegt noch heute in Trümmern). Die Nationalbibliothek brannte ab (und ist noch heute eine Ruine).
Im Dezember 1994 arbeitete ich vorübergehend im International Human Rights Law Institute der DePaul University, wo Zeugenaussagen zu Kriegsverbrechen in Bosnien gesammelt wurden. Ich arbeitete zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr für Greenpeace, sondern studierte an der Northwestern University. Und da ich dringend einen Job brauchte, meldete ich mich in dem Institut. Mein potentieller Arbeitgeber konnte nicht wissen, wer ich war oder was ich früher gemacht hatte – ich hätte genauso gut ein Spion sein können –, weshalb man mir simple Aufgaben zuwies. Zunächst arbeitete ich in der Abteilung, wo Aussagen oder Hinweise über Konzentrationslager in einer Datenbank gesammelt wurden. Aber schließlich bekam ich einen Stapel Fotografien von noch unidentifizierten zerstörten und zerschossenen Häusern in Sarajevo, die ich lokalisieren sollte. Viele Gebäude hatten kein Dach mehr, waren übersät mit Einschusslöchern oder ausgebrannt, die Fenster zerschossen. Auf den Fotos waren kaum Menschen zu sehen, aber mir kam es trotzdem vor, als identifizierte ich Leichen. Gelegentlich erkannte ich die Straße oder auch den genauen Standort, manchmal waren mir die Häuser so vertraut, dass sie geradezu irreal aussahen. Beispielsweise das Haus an der Danijela Ozme, Ecke Kralja Tomislava. Gegenüber hatte ich oft auf Renata gewartet, meine erste Schulfreundin, die aus Džidžikovac kommen würde. Im Erdgeschoss war damals ein Laden, wo ich Süßigkeiten oder Zigaretten kaufte, wenn sie sich verspätete, was regelmäßig passierte. Ich kannte dieses Gebäude seit Jahren. Es hatte immer da gestanden, solide, unverwüstlich. Nie hatte ich einen Gedanken an das Haus
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