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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Heamon
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gemeinsamen Erfahrungen; das Chicago, das ich verstehen wollte, war dunkel und anonym.
    In Sarajevo hatte man seine eigene Infrastruktur – das kafana, den Friseur, die Metzgerei, die Straßen, auf denen man begrüßt wurde, den Ort, der einen prägte, die persönlichen Wegmarken (die Stelle, wo man beim Fußballspielen hingefallen war und sich den Arm gebrochen hatte, die Ecke, wo man mit der allerersten Freundin verabredet gewesen war, die Bank, auf der man sie zum ersten Mal geküsst hatte). Weil Anonymität so gut wie unmöglich und Privatheit buchstäblich fremd war (im Bosnischen gibt es kein Wort für » Privatsphäre « ), war man überall bekannt. Zwischen Innenwelt und Außenwelt gab es praktisch keine Grenzen. Wenn jemand aus irgendwelchen Gründen verschwand, hätten ihn die anderen aus dem kollektiven Gedächtnis und den im Laufe der Jahre akkumulierten Klatschgeschichten rekonstruieren können. Das Bewusstsein der eigenen Identität bestimmte sich durch die Position in diesem Beziehungsgeflecht, dessen physische Entsprechung die Architektur der Stadt war. Chicago war nicht gebaut, damit Menschen dort zusammenkommen, sondern damit sie in Sicherheit voreinander leben konnten. Größe, Macht und das Streben nach Privatheit schienen die bestimmenden Architekturelemente zu sein. Chicago ignorierte den Unterschied zwischen Freiheit und Vereinzelung, Unabhängigkeit und Egoismus, Privatheit und Einsamkeit. In dieser Stadt gab es kein Beziehungsgeflecht, in dem ich mich verorten konnte. Mein Sarajevo, die Stadt, die ich noch immer in mir hatte, wurde belagert und zerstört. Meine Entwurzelung war ebenso metaphysisch wie physisch. Aber ich konnte nicht nirgends leben. Ich wollte auch von Chicago bekommen, was Sarajevo mir gegeben hatte – eine Geographie der Seele.
    Weitere Stadtwanderungen waren nötig, vor allem aber ein halbwegs vernünftig bezahlter Job. Meine Erfahrung verriet mir nicht, wie man in Amerika an einen Job kam. Weder das Œ uvre De Palmas noch die Literatur der Erschöpfung enthielten irgendwelche Hinweise. Nach ein paar illegalen, miserabel bezahlten Jobs, bei denen ich teilweise gezwungen war, die Sozialversicherungsnummer eines anderen anzugeben (kannst mich mal, Arizona!), erhielt ich meine Arbeitserlaubnis und konnte nun den überfüllten Mindestlohnsektor betreten. Für Restaurantmanager und Zeitarbeitfirmen, die Aushilfen und Barmänner suchten, entwarf ich ein großes und partiell erfundenes Universum meines bisherigen Lebens, in dessen Mittelpunkt eine allgemeine Vertrautheit mit Amerika stand. Niemand interessierte sich dafür. Es dauerte ein paar Wochen, um zu lernen, dass a) weitschweifige Ausführungen über den amerikanischen Film nicht einmal einen Aushilfsjob einbrachten und dass b) die Versicherung » Wir melden uns bei Ihnen « nur dahergesagt ist.
    Mein erster legaler Job bestand darin, für Greenpeace Klinken zu putzen, eine Organisation, in der Außenseiter naturgemäß willkommen sind. Als ich mich vorstellte, wusste ich nicht einmal, worin der Job bestand, was canvassing konkret bedeutete. Natürlich hatte ich Angst davor, die Leute an der Haustür anzusprechen, mit meinen ungenügenden Sprachkenntnissen, dem Englisch, in dem keine Artikel vorkamen, und mit meinem starken Akzent, aber mir gefiel die Vorstellung, wie ein Vertreter von Haus zu Haus zu gehen. Und so war ich im Frühsommer 1992 als Werber in den langweiligen, gesichtslosen westlichen Vororten (Schaumburg, Naperville) unterwegs, in den wohlhabenden Vierteln im Norden (Wilmette, Winnetka, Lake Forest) mit ihren Villen und den vielen Autos in palastartigen Garagen, in den südlichen Arbeitervierteln (Blue Island, Park Forest), wo die Leute mich hereinbaten und mir alte Cremetörtchen anboten. Bald konnte ich anhand des Rasens, der Zeitung im Briefkasten und der Automarke (Volvo bedeutete Demokraten) auf das Einkommen und die politische Einstellung der Bewohner schließen. Geduldig ertrug ich die Fragen nach Bosnien und Jugoslawien und überlegte nicht mehr, was das mit der untergegangenen Tschechoslowakei zu tun hatte. Gutmütig ließ ich Vorträge über die Spiritualität von Star Trek über mich ergehen und bestätigte, dass ich in Sarajevo die Segnungen von Pizza und Fernsehen kennengelernt hatte. Mit einem Lächeln quittierte ich die Erklärung eines jungen Mannes, er sei absolut blank, weil er sich gerade einen Porsche gekauft habe. Ich trank Limonade im Haus eines liebenswürdigen katholischen Priesters

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