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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Heamon
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dem vorsintflutlichen Gemeinschaftscomputer des AIR schrieb ich meine ersten englischen Texte.
    Von daher war es sehr bezeichnend, dass im Frühjahr 1994 ganze Schiffsladungen bosnischer Kriegsflüchtlinge ausgerechnet in Edgewater landeten. Geradezu schockartig war das Wiedererkennen, als ich eines Tages aus dem Fenster schaute und unten auf der Straße – wo normalerweise kaum jemand zu Fuß unterwegs war, allenfalls Junkies – eine Familie in unverkennbar bosnischer Formation sah: angeführt vom ältesten Mann, die Hände auf dem Rücken verschränkt, alle gebeugt, als hätten sie eine schwere Last zu tragen. Bald wimmelte es im Viertel von Bosniern, die abends, gänzlich gegen die lokalen Gepflogenheiten, spazierengingen und denen die Verunsicherung des Flüchtlings deutlich anzumerken war. In großen Gruppen saßen sie wortlos in einem türkischen Café, das sie auf diese Weise in ein richtiges kafana verwandelten, und tranken schweigend Kaffee, eingehüllt in dunkle Wolken von Kriegstraumata und Tabakschwaden, während die Kinder draußen auf der Straße spielten, unbeeindruckt von den Dealern, die an der Ecke ihren Geschäften nachgingen. Ich konnte sie nun, von meinem Fenster, aus dem kafana, auf der Straße beobachten. Mir schien, als wären sie gekommen, um nach mir zu suchen.
    Im Februar 1997, ein paar Monate vor meiner ersten Wiederbegegnung mit Sarajevo, kam Veba auf Besuch nach Chicago. Wir hatten uns seit meinem Weggang nicht mehr gesehen. In den ersten Tagen hörte ich mir seine Geschichte an, die Berichte vom Leben unter der Belagerung, die Berichte über die schrecklichen Veränderungen, die der Krieg gebracht hatte. Ich wohnte noch immer im AIR . Trotz der Kälte wollte Veba sehen, wo ich lebte. Wir streiften durch Edgewater, setzten uns ins Shoney’s, gingen in das Schachcafé, in das kafana am zugefrorenen See. Bei meinem Friseur ließ er sich die Haare schneiden, bei meinem Metzger kauften wir Fleisch. Ich erzählte ihm von Edgewater, von der jungen Frau auf dem Sims, von der Familie, die in bosnischer Formation spazierenging, von Peter, dem Assyrer.
    Und dann fuhr ich mit Veba nach Ukrainian Village, zeigte ihm, wo ich in der Anfangszeit gewohnt hatte. Ich ging mit ihm zu Burger King, wo ich mir eine amerikanische Figur zugelegt und den alten Emigranten zugehört hatte, die bei dünnem Kaffee über ukrainische Politik diskutierten – für mich waren sie die Ritter vom Burger King. Wir liefen durch die Goldküste, bemerkten in einer Wohnung einen Matisse, den man von der Straße aus sehen konnte, und schauten uns im Esquire einen Film an. Wir besuchten den Water Tower, und ich erzählte von dem großen Chicagoer Feuer. Wir gingen ins Green Mill, wo Al Capone Martinis getrunken hatte und jede Jazzgröße, von Louis Armstrong bis Charlie Mingus, aufgetreten war. Ich zeigte ihm, wo das Valentine’s Day Massacre stattgefunden hatte. Die Garage existierte längst nicht mehr, aber angeblich bellten Hunde dort noch immer, weil sie Blut riechen konnten.
    Und während ich mit Veba durch die Stadt streifte und von meinem Leben in Edgewater erzählte, wurde mir bewusst, dass meine Emigranteninnenwelt sich allmählich mit der amerikanischen Außenwelt verbunden hatte. Weite Teile von Chicago hatten sich in mir niedergelassen. Jetzt gehörten sie mir. Ich sah Chicago mit den Augen des Sarajevoers, beide Städte bildeten eine komplizierte innere Landschaft, in der Geschichten entstehen konnten. Als ich im Frühjahr 1997 von meinem ersten Sarajevo-Besuch nach Chicago zurückkehrte, gehörte die Stadt mir. Von meinem Zuhause kehrte ich zurück nach Hause.

Warum ich nicht aus Chicago weggehen will – eine unvollständige Liste von Gründen
    1. Im Sommer bei Sonnenuntergang in Richtung Westen fahren, von der Sonne geblendet, so dass man die entgegenkommenden Autos nicht sieht. Die hässlichen Lagerhallen und Karosseriewerkstätten sind in flammendes Orange getaucht. Wenn die Sonne untergeht, erscheint alles noch intensiver. Die Backsteinfassaden nehmen einen bläulichen Ton an, am Horizont zeichnen sich anthrazitgraue Streifen ab, der Himmel und die Stadt sind unendlich weit. Wohin man auch schaut, überall ist Westen.
    2. Die Art und Weise, wie sich die Leute im Winter auf dem U-Bahnhof Granville unter den Laternen drängen wie Küken unter einer Wärmelampe. Es ist ein Bild menschlicher Solidarität im Angesicht der harten Natur, Zeugnis der Geschichte Chicagos und der Zivilisation.
    3. Die amerikanische

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