Das Buch meiner Leben
Weite von Wilson Street Beach, Möwen und Drachen segeln am Himmel, Hunde jagen bellend der Brandung hinterher, Großstadtkids sind mit selbstgemachten Drogen zugange, blind für die Schiffe am Horizont auf ihrem mysteriösen Weg von Liverpool nach Gary, Indiana.
4. Anfang September, wenn die Sonnenstrahlen plötzlich anders einfallen und alles besser aussieht, weicher, nicht mehr so scharf. Die quälende Sommerhitze ist nun vorbei, die brutale Winterkälte noch fern, und die Menschen genießen die zeitweilige Sanftheit und Freundlichkeit ihrer Stadt.
5. Der Basketballplatz am Foster Street Beach, wo ich einmal zugesehen habe, wie ein unglaublich athletischer Typ die ganze Zeit – dribbelnd, werfend, diskutierend oder beim Dunking – einen Zahnstocher im Mund hatte, den er nur herausnahm, um auszuspucken. Jahrelang war er für mich der Inbegriff Chicagoer Coolness.
6. Die sich auftürmenden Eismassen am Seeufer, wenn der Winter besonders kalt und der See zugefroren ist, so dass das Eis auf das Land übergreift. An einem bitterkalten Tag stand ich dort und begriff, dass vor Jahrmillionen auf genau diese Weise die Gebirgszüge entstanden sind, tektonische Platten, die sich ineinanderschieben. Diese urtümlichen Gebilde kann jeder Autofahrer sehen, der sich auf dem Lake Shore Drive vorankämpft, aber die meisten schauen nur nach vorn. Es interessiert sie nicht.
7. Abends von einem Hochhaus in Edgewater oder Rogers Park nach Westen zu schauen: schimmernde Flugzeuge über O’Hare. Meine Mutter und ich saßen einmal einen ganzen Abend im Dunkeln, hörten Frank Sinatra und sahen den Flugzeugen zu, die verblüfften Glühwürmchen glichen, und staunten über das immer neue Wunder dieser Welt.
8. Die wohltuend geringe Zahl von Prominenten in Chicago, von denen die meisten überbezahlte abgehalfterte Sportler sind. Oprah, einer der Friends und viele andere mir Unbekannte sind nach New York oder Hollywood gegangen oder in einer Entzugsklinik verschwunden, wo sie das falsche Abzeichen ihrer einfachen Chicagoer Herkunft tragen und wir sie beanspruchen können, ohne für die Leere in ihrem Schlagzeilenleben verantwortlich zu sein.
9. Die Wellensittiche von Hyde Park, die wundersamerweise strenge Winter überstehen, ein eindrucksvoller Fall von Leben, das sich nicht unterkriegen lässt, beispielhaft für jene Haltung, die Chicago hart und groß gemacht hat. Tatsächlich habe ich nie einen gesehen. Dass sie möglicherweise erfunden sind, macht die ganze Sache noch besser.
10. Der Blick vom Adler Planetarium auf die nächtliche Skyline: erleuchtete Fenster inmitten dunkler Gebäude vor dem noch dunkleren Himmel. Es scheint, als klebten eckige Sterne an der dicken Wand einer Chicagoer Nacht; die kalte, inhumane Schönheit, in der alles Leben enthalten ist, jedes Fenster eine mögliche Geschichte, darin ein Einwanderer, der spätabends Großraumbüros saubermacht.
11. Das Graugrün des kaum schäumenden Sees, wenn der Wind aus Nordwest weht und der Himmel kühl ist.
12. Die langen, schwülen Sommertage, wenn die Straßen wie schweißgebadet daliegen und die Luft so schwer und warm wie honigsüßer Tee ist, die Strände voller Familien – grillende Väter, sonnenbadende Mütter, planschende Kinder, fast blau angelaufen, im seichten Wasser. Dann weht eine kühle Brise über die Parks, ein sintflutartiger Wolkenbruch durchnässt jedes Lebewesen, und irgendwo verliert jemand an Macht. (Einem Chicagoer Sommertag ist nicht zu trauen.)
13. Die sorglosen Vorstädter auf der Michigan Avenue, zu erkennen an ihren Hard-Rock-Café-T-Shirts, blind für die Stadt jenseits der Shopping- und Unterhaltungsangebote; die Touristen auf schnellen Rundfahrtbooten, die an den Wolkenkratzern hinaufsehen wie enterbereite Piraten; die Brückenhälften, symmetrisch erigiert wie rivalisierende Schwänze; der Straßenmusikant vor dem Wrigley Building, der auf seiner Tuba » Killing Me Softly « spielt.
14. Die Tatsache, dass die Fans der Cubs in jedem Frühjahr erklären: » In diesem Jahr schaffen wir’s! « – was sich spätestens im Sommer als Illusion erweist, wenn für die Cubs, wie üblich, nicht einmal rechnerisch die Möglichkeit mehr besteht, es noch bis zu den Play-offs zu schaffen. Diese aussichtslose Hoffnung ist einer der ersten Vorboten des Frühlings, Zeichen eines kindlichen Glaubens, dass Schluss ist mit allem Unrecht und alles wieder gut wird, einfach weil die Bäume ausschlagen.
15. Ein warmer Februartag in meiner Fleischerei,
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