Das Buch meiner Leben
Später verlor er jedoch das Interesse an Rock ’n’ Roll, ja, überhaupt an den meisten Dingen, die nichts mit Mathematik oder Schach zu tun hatten. Anders als der ordentliche, disziplinierte, gepflegte Mladen war Ljubo extrem schlampig und entsprach damit vollkommen dem Klischee des gedankenverlorenen Mathematikers. Seine Handschrift war so unleserlich, dass er bei Klassenarbeiten manchmal nur deswegen eine schlechte Note bekam, weil der Lehrer seine genialen Lösungen komplizierter Gleichungen nicht entziffern konnte. Unter dem Einfluss der romantisierenden Mythen des Unkonventionellen (Bukowski! Sex Pistols! Warhol!) erschien mir seine Unfähigkeit, in der Realität zu funktionieren, die für uns andere galt, als Ausweis des wahren Genies – am Ende, dachte ich, wird er sich als der wahrhaft große Geist unter uns herausstellen.
In unserem letzten Schuljahr beschloss Mladen, seine Zeit nicht mehr damit zu verplempern, mit Stümpern wie uns Blindschach zu spielen und Trotteln wie mir komplizierte Kurven zu erklären. Er bestand die Abschlussprüfung, ging auf die Universität und verschwand in den Niederungen eines pflichtbewussten Lebens. Die übrigen Gemüsehändler mussten mühsam für das Abitur pauken, nur um anschließend zum einjährigen Militärdienst eingezogen zu werden.
Für Ljubo, der viel zu chaotisch war, um – wie Mladen – den Militärdienst zu umgehen, war es eine schreckliche Zeit. Er kehrte ziemlich gebeutelt aus der Armee zurück, bestand aber alle Matheprüfungen in seinem ersten Studienjahr. Probleme hatte er nur in Geometrie, weil er saubere Kurven zeichnen musste. Unrasiert und ungewaschen, erschien er zur Prüfung, das zerknitterte Hemd hing ihm halb aus der Hose, in der Hand ein kaputtes Lineal und einen stumpfen Bleistift. Seine Kurven stellten mehr als nur euklidische Räume dar, sie waren Ausdruck seiner wirren Psyche.
Und schon bald entwickelte er eine ausgewachsene Schizophrenie. Ein paarmal landete er in Jagomir, einer düsteren Irrenanstalt am Stadtrand von Sarajevo. Ich selbst habe ihn dort nie besucht, aber einige meiner Klassenkameraden fuhren hin. Sie kehrten zurück mit grauenhaften Geschichten von winzigen Zimmern voller Patienten, die imaginären Gästen imaginären Kaffee servierten oder wehklagend in der Ecke saßen. Ljubo entwickelte lange und komplizierte Verschwörungstheorien und spottete über seine Klassenkameraden, die die offensichtlichen Zusammenhänge nicht verstanden. Anders als er hatten sie keine inneren Stimmen, die sie durch sein chaotisches Innenleben führten. Hilflos und verwirrt hörten sie ihm zu.
Als er in sein Elternhaus zurückkehrte, bat uns seine Mutter einmal, herüberzukommen, um mit ihm zu sprechen und ihn aufzumuntern. Wir sieben, seine Schulfreunde, klingelten schüchtern, kicherten verunsichert und überreichten seiner Mutter eine Packung Konfekt. Sie bot uns Cola und ein paar Kleinigkeiten an, als wären wir auf einer Geburtstagsfeier, und ließ uns dann allein (wahrscheinlich lauschte sie an der Tür). Wir plapperten irgendwelche Belanglosigkeiten, weil es Ljubo nicht gutging und wir nicht wussten, was wir sagen sollten. Er war teilnahmslos und träge, stand unter starken Psychopharmaka. Und dann erzählte er uns eine seiner atemberaubenden Storys. Diesmal war es die wahre Geschichte von Aljechin, der laut Ljubo von Gott abstammte und daher über eine Art Schicksalsmacht verfügte, unverkennbar für all jene, die seine Partien korrekt analysiert hatten. Irgendwie war Aljechins Göttlichkeit auf Ljubo übergegangen, der nun also direkten Kontakt zu Gott hatte. Wir hätten ja keine Ahnung, sagte er, könnten uns keinen Begriff von den Dimensionen seiner noch unausgeübten Macht machen. Daraus entwickelte er dann seine Theorie, dass die wahren Großmeister – diejenigen von Aljechins göttlichem Kaliber – am Ende allesamt das Schachspielen aufgegeben hatten. Weil die Anzahl der Stellungen, wie groß auch immer, letztlich begrenzt sei, spielten die wahren Großmeister alle möglichen Kombinationen und stießen irgendwann an die Grenzen des Schachspiels. Dann werde es langweilig, da sie keine Spiele mehr spielen könnten. Fasziniert hörten wir Ljubo zu. Er fuhr fort: Wenn die Großmeister mit Schach aufhören, fangen sie an, umgekehrtes Schach zu spielen, bei dem es darauf ankommt, möglichst schnell zu verlieren – Sieger ist, wer als Erster verliert. Dieses Spiel heißt b ujrum, was sich mit » Bitte, bedien dich! « übersetzen
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