Das Buch meiner Leben
von Saigon Invalidenrente bezog. Sein Knie wippte oft wie verrückt, und er war stolz darauf, zu denen zu gehören, die den Vormarsch des Kommunismus in Südostasien aufgehalten hatten. Er spielte Schach, nahm Drogen und machte kaum etwas anderes. Einmal erzählte er, dass er während eines Acid-Trips das Gesicht unter fließendes Wasser gehalten hatte, um die einzelnen Wassertropfen zu studieren, deren molekulare Schönheit ihn völlig überwältigte. Marvin, der die Statur eines Footballspielers besaß, kam gelegentlich vorbei, um Schnellschach zu spielen. Er erledigte seine Gegner so blitzartig, dass niemand von uns Zuschauern verstand, was da passierte. Es gab einen brillanten indischen Computerfachmann, der in den wenigen Jahren, in denen ich das Café besuchte, wegen seiner Spielsucht mehrmals den Job verlor. Er versprach seiner Frau, dass er aufhören werde, konnte aber immer nur an Schach denken. Er kam noch immer zum Kiebitzen ins Café, lehnte aber alle Einladungen ab. Natürlich setzte ihn seine Frau am Ende vor die Tür. Er erzählte es mir bei seinem letzten Besuch. Er fuhr damals ein Taxi, das er vor dem Café parkte, um in einem grandiosen Rückfall den ganzen Tag zu spielen, ohne einen Gedanken an sein Taxi zu verschwenden. Alle meine Schachfreunde waren einsame Männer, die sich der schmerzhaft flüchtigen Schönheit des Spiels hingaben und nie auch nur in die Nähe des bujrum kamen.
Und dann gab es Peter. Wenn wir gegeneinander spielten, attackierte ich von allen Seiten, während er geduldig verteidigte und darauf wartete, dass ich einen Fehler machte, was natürlich irgendwann passierte, und dann wandelte er unweigerlich einen Bauern in eine Dame um. Bald musste ich mich geschlagen geben, was er immer schriftlich haben wollte. Wir redeten nicht viel während eines Spiels, nur zwischen den Partien, tauschten Informationen aus, entdeckten Gemeinsamkeiten. Er besaß eine Parfümerie im Viertel, was seinen starken, blumigen Parfümgeruch erklärte, der nicht so recht zu seiner ungepflegten Altmännererscheinung zu passen schien. Wir beide waren Einwanderer. Ich erzählte, dass ich in Sarajevo geboren und aufgewachsen war, woraufhin er nur » Tut mir leid « sagte. Er war Assyrer, aber geboren in Belgrad. Eines Abends, als wir nach einem langen Tag im Café nach Hause gingen, fragte ich ihn, wie es käme, dass er in Belgrad geboren sei. Seine Eltern, erzählte er widerstrebend, seien 1917 aus der Türkei geflohen, nach dem Massaker an den Armeniern seien für die wenigen Assyrer immer noch ein paar Kugeln übrig gewesen. Seine Eltern hätten es nach Belgrad geschafft, und deshalb sei er dort geboren. Ein paar Jahre später seien sie in den Irak gezogen, dort sei er aufgewachsen. Doch dann, als er in den Zwanzigern gewesen war, sei er mit dem Sohn des Premierministers aneinandergeraten (er nannte keine Einzelheiten oder Gründe), so dass er nach Iran fliehen musste, weil sein Leben in Gefahr war. Er heiratete, bekam einen Sohn, war Angestellter der amerikanischen Botschaft in Teheran, was 1979, bei Ausbruch der islamischen Revolution, der denkbar schlechteste Arbeitsplatz war. In dieser chaotischen Situation wurde sein jeanstragender Sohn von Revolutionären angehalten und durchsucht. Er hatte Marihuana bei sich und wurde auf der Stelle erschossen.
Da saß ich also einem Assyrer namens Peter gegenüber, der in Chicago Restposten von » Eternity for Men « verkaufte und mich beim Schach schlug, ohne großes Vergnügen dabei zu empfinden, ein Mann, der in seinem Leben mehr gelitten hatte, als ich mir vorstellen konnte. Auf dem Heimweg erzählte er mir seine Lebensgeschichte, bevor wir nach wenigen Minuten auseinandergingen. Es gibt immer eine Geschichte, die schlimmer und herzzerreißender ist als die eigene. Und ich verstand, warum Peter mir so nahe war: Er gehörte ebenfalls zum Stamm der Heimatlosen. Ich hatte ihn unter all den Leuten erkannt, weil wir verwandt waren.
Ich erinnerte mich, wie er Wochen zuvor ein paar Studenten angefahren hatte, die am Nebentisch unentwegt plapperten, ohne auch nur einmal innezuhalten. Ich hatte mich über die idiotischen Floskeln geärgert, die sie ständig gebrauchten, konnte aber eben deswegen nicht weghören. Doch während ich, schon immer leicht abzulenken, das einfach hinnahm, explodierte Peter plötzlich: » Warum könnt ihr nicht mal still sein? Ihr redet und redet seit einer Stunde. Haltet endlich die Klappe! « Die Studenten schwiegen erschrocken. Ich konnte
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