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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Heamon
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lässt und gern bei Tisch gesagt wird, damit die anderen zulangen. Man bietet also die eigenen Figuren dem Gegner an und versucht, möglichst schnell alle zu verlieren und sich selbst matt zu setzen. In meiner Kindheit hatte ich bujrum gespielt, ohne zu wissen, dass ich mich auf göttlichem Terrain bewegte. Alle Großmeister, sagte Ljubo, spielten inzwischen bujrum, selbst Bobby Fischer. Viele der größten Bujrum -Spieler seien unbekannt. Karpow und Kasparow (seinerzeit erbitterte Rivalen im Kampf um die Weltmeisterschaft) seien im Grunde armselige Stümper, die nicht imstande seien, die Grenzen des Schachs zu überschreiten und bujrum zu spielen.
    Ljubo war so überzeugt von seiner Theorie, dass sie für einen Moment einleuchtend schien. Uns fiel kein Gegenargument ein, das sein psychotisches Denkgebäude auch nur ansatzweise ins Wanken bringen konnte. Grübelnd saßen wir da, bis seine Mutter mit Kuchen und Cola hereinkam. Wir griffen sofort zu, um nichts sagen zu müssen, und hofften, bald gehen zu können, aber Ljubos Mutter fand, dass die Party noch weitergehen sollte. Sie bat Ljubo, etwas auf dem Akkordeon für uns zu spielen. Folgsam griff er nach dem Instrument. Wir warteten, bis er den Tragegurt eingestellt hatte, und dann spielte er. Es waren die ersten Takte der » Ode an die Freude « . Niemand von uns hatte damit gerechnet, dass er auf diesem verstimmten Akkordeon ausgerechnet Beethoven spielen würde. Es klang überhaupt nicht freudig. Bis heute ist Ljubos Interpretation des letzten Satzes von Beethovens Neunter das traurigste Stück, das ich je gehört habe. Seine Darbietung war für die Musik, was bujrum für das Schachspiel war – das genaue Gegenteil der » Ode an die Freude « . Wir waren wie gelähmt von den erschreckenden Möglichkeiten seiner Antimusik und seines Antischachs. Neben unserem Leben gab es also auch ein Antileben, das Ljubo führte und von dem wir erst durch seine Anti- » Ode an die Freude « erfuhren. Wir klatschten idiotisch Beifall, tranken unsere labbrige Cola aus, bedankten uns bei seiner Mutter und gingen nach Hause, wild entschlossen, künftig keine Angst vor Antimaterie und Dunkelheit mehr zu haben.
    Nach meinem Umzug von Ukrainian Village nach Edgewater spielte ich im Atomic Café in Rogers Park Schach. Das war unweit des Artists-in-Residence-Hauses, wo ich ein winziges Studio gemietet hatte. Das Café war gleich neben dem 400 Movie Theater, wo man für wenig Geld ältere Filme sehen konnte und wo es nach Popcorn und permanent verstopften Toiletten roch. Im Sommer spielten die Leute Schach draußen im Freien, in den übrigen Monaten wimmelte es in dem Café von Studenten der nahegelegenen Loyola University, aber in einer Ecke saßen immer Schachbegeisterte. Hier trafen sich die Schachspieler von der North Side. An Wochenenden konnte man mühelos zwölf Stunden am Stück spielen. Als ich im Frühjahr 1993 zum ersten Mal dort vorbeikam, sah ich mich kurz um und ging dann ins Kino. Am nächsten Tag ging ich wieder hin, in der Hoffnung, eine Partie spielen zu können. Ich beobachtete schüchtern die Szene und musste mein ganzes Selbstvertrauen mobilisieren, um die Einladung eines älteren Mannes anzunehmen, der sich als Peter vorstellte. Er sah ungepflegt aus, graue Haarbüschel in den Ohren, das Hemd spannte über dem Bauch, Umschläge steckten in der Brusttasche. Aus irgendeinem Grund roch er stark parfümiert. Aber so, wie man einen guten Fußballer an seiner Ballbehandlung erkennen kann, so verriet mir Peters Art, hochkonzentriert über den nächsten Zug mit all den sich daraus ergebenden Möglichkeiten nachzudenken, dass er ein guter Schachspieler war.
    Ich weiß nicht mehr, wie meine erste Partie gegen ihn ausging, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich verlor – meine letzte anspruchsvolle Partie war schon eine ganze Weile her. Ich ging nun regelmäßig in das Atomic Café, spielte oft mit Peter, den es nicht zu langweilen schien, dass er mich besiegte. Ich spielte auch mit anderen, schlug sogar manchen angesehenen Stammgast. Bald verbrachte ich ganze Wochenenden im Café, die ich nur unterbrach, um im Kino nebenan einen Film anzusehen.
    Wie sich zeigte, war das Atomic Café ein Treffpunkt der unterschiedlichsten Schachtypen. Zwischen den Partien saß ich mit anderen Spielern herum, wir quatschten miteinander, ich stellte viele Fragen, wollte erfahren, wo sie herkamen, wie sie lebten. Es gab beispielsweise einen Vietnam - Veteranen, der mindestens seit dem Fall

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