Das Buch meiner Leben
Peters Ausbruch gut verstehen – er beklagte nicht nur die Nachlässigkeit im Umgang mit Sprache, sondern auch die Gleichgültigkeit, die damit einherging. Für ihn, den Exilanten, war es moralisch verwerflich, über Nichtigkeiten zu reden, wenn es für all die Schrecken auf der Welt nicht genug Worte gab. Schweigen war besser, als über Belanglosigkeiten zu reden. Es galt, vor der Flut dahingeplapperter Wörter die innere Stille zu schützen, jenen Raum, wo die Mosaiksteinchen zu einem sinnvollen Ganzen zusammengefügt werden konnten, wo Gegner sich an Regeln hielten, wo es trotz allem vielleicht möglich war, aus der Niederlage einen Sieg zu machen. Die Studenten hatten natürlich keine Ahnung, wie es in Peter aussah. Sie waren gegen Sprachlosigkeit immunisiert, hatten also keinen Zugang zum Unsagbaren. Sie konnten uns nicht sehen, obwohl sie neben uns saßen, denn wir waren nirgendwo und überall. Also schwiegen sie, saßen wortlos da, standen schließlich auf und gingen. Peter und ich stellten die Schachfiguren für eine neue Partie auf.
Nach ein paar Jahren regelmäßiger Besuche im Atomic Café war ich recht gut für einen Stümper. Wenn ich ein wirklich guter Spieler werden wollte, müsste ich mir die Mühe machen, die Spiele der Großen zu studieren. Doch damit war nicht zu rechnen. Ich war nicht nur zu alt und faul, ich hatte auch nicht die Zeit dafür, denn ich musste Geld verdienen, um den Leib zu ernähren und zu kleiden, der mein Inneres umhüllte. Außerdem hatte ich, jahrelang eingeklemmt zwischen Muttersprache und Exilsprache und unfähig, in beiden zu schreiben, schließlich angefangen, auf Englisch zu schreiben. Damit erschloss ich mir einen neuen Raum, in dem ich Erfahrungen verarbeiten und Geschichten erfinden konnte. Schreiben war eine Möglichkeit, mein Inneres so zu ordnen, dass ich mich dorthin zurückziehen und es mit Worten anfüllen konnte. Mein Bedarf an Schachspielen war gedeckt, an seine Stelle trat das Schreiben.
Heute ist mir, als hätte ich die allerletzte Partie gegen meinen Vater gespielt, was vermutlich gar nicht stimmt, es war einfach die letzte, die mir wichtig war. Als ich meine Eltern 1995 in Hamilton/Ontario besuchte, forderte ich meinen Vater zu einem Spiel heraus. Meine Eltern waren in Kanada auf dem Tiefpunkt ihres Flüchtlingslebens angekommen. Geplagt von dem brutalen Klima, umgeben von einer Sprache, die ihnen fremd blieb, ohne Freunde und Verwandte, wurden sie regelmäßig von Heimweh und Hoffnungslosigkeit überwältigt.
Ich konnte ihnen nicht helfen. Während meiner Besuche stritten wir uns allzu oft. Ihre Verzweiflung ärgerte mich, weil sie der meinen glich und ihnen verwehrte, mich zu trösten – vermutlich wollte ich noch immer ihr Kind sein. Wir stritten uns über Kleinigkeiten, brachten uralte Konflikte und unvergessene Beleidigungen aufs Tapet, nur um uns wenig später wieder in die Arme zu fallen. Wir vermissten einander, selbst wenn wir zusammen waren, weil wir unser altes Leben vermissten. Nichts war mehr wie früher. Unsere gemeinsamen Unternehmungen in Kanada erinnerten uns an all das, was wir früher in Bosnien gemeinsam gemacht hatten. Es gefiel uns nicht, aber wir hatten nichts anderes. Ich verbrachte ganze Tage auf dem elterlichen Sofa (Spende eines freundlichen Kanadiers), guckte Wiederholungen von Law & Order, und wenn ich aus meinem TV -Koma auftauchte, hatte ich jedes Mal das Bedürfnis, jemanden anzuschreien, so wie Peter die armen Studenten angeschrien hatte.
An einem dieser elenden Tage forderte ich meinen Vater zu einer Partie Schach heraus. Ja, ich brannte darauf, ihn zu schlagen. Ich war durch die harte Schule namens Atomic Café gegangen und wollte nun, nachdem ich jahrelang nicht gegen ihn gespielt hatte, endlich aus seinem Schatten treten. Durch einen Sieg konnte ich das Ungleichgewicht zwischen uns ausgleichen und ihn spüren lassen, wie ich mich als Kind gefühlt hatte. Ich hielt ihm beide Fäuste hin, er nahm die mit der schwarzen Figur. Wir stellten die Figuren auf einem winzigen magnetischen Brett auf. Ich gewann, aber es bereitete mir keine Freude. Ihm auch nicht. Vielleicht hat er mich ja gewinnen lassen. Wenn es so war, habe ich es jedenfalls nicht gemerkt. Wir gaben uns schweigend die Hand, wie wahre Großmeister, und haben nie mehr gegeneinander gespielt.
In der Hundehütte
1995 lernte ich im Lehrerzimmer einer Berufsschule, an der ich Englisch als Fremdsprache unterrichtete, eines Tages L. kennen. Sie erzählte, dass
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