Das Buch mit dem Karfunkelstein
Mönche schwiegen, niemand sprach vor allen anderen für ihn,
und in der Schule machte man sich über ihn lustig. Wie konnte er seine Wut nur loswerden?
Er war froh, dass er nach dem Unterricht endlich ins Skriptorium gehen konnte. Irgendwie hoffte er, das Buch könnte wie durch
ein Wunder wieder aufgetaucht sein.
Als er eintrat, ließen sich die drei Mönche, die die Bücher für den Bischof abschreiben sollten, durch nichts in ihrer Arbeit
stören. Hildebert und Gregor beugten sich über ein aufgeschlagenes Buch auf dem Tisch. Aber Paul sah sofort, dass es nicht
das Buch mit dem Karfunkelstein war.
»Ah, da bist du ja, Paul! Komm her und sieh dir das an!«, sagte Gregor und nahm seine Brille von der Nase.
Paul war sehr erstaunt gewesen, als er dieses seltsame Gestell zum ersten Mal gesehen hatte. Sein Großvaterhatte einen Lesestein besessen, den man auf die Buchstaben legte, damit sie größer wurden. Gregors Lesesteine in dem Gestell
waren jedoch viel flacher. Es waren geschliffene Halbedelsteine, hatte der Bibliothekar ihm erklärt. Sie hießen Berylle. Jeder
steckte in einem runden Rahmen mit einem kurzen Stiel. Die beiden Stiele waren an den Enden mit einer Art Bolzen verbunden.
Man hielt sich das Ganze vor die Augen und konnte wieder Buchstaben lesen.
»Eine wunderbare Erfindung, solch eine Brille!«, hatte Gregor sich begeistert. »Es wäre nur besser, wenn ich sie nicht immer
festhalten müsste. Wenn ich versuche, sie beim Lesen auf die Nase zu klemmen, fällt sie einfach herunter. Man könnte sie vielleicht
auch mit einem Faden an den Ohren festmachen, was meinst du?«
Aber jetzt ging es nicht um die Brille. Gregor zeigte auf eine Pergamentseite im Buch.
Es war ein Bild, das die ganze Seite ausfüllte. Auf den ersten Blick bestand es nur aus mehreren Kreisen, in denen Figuren
standen. Paul beugte sich näher über das Blatt. Er erkannte im mittleren Kreis eine Königin. Sie thronte über zwei Männern,
die in Büchern lasen. Im äußeren Kreis standen sieben Frauen und hielten seltsame Gegenstände in den Händen. Und ganz unten
auf der Seite saßen vier Männer an Lesepulten, auf denen aufgeschlagene Bücher lagen.
Das Bild war beschriftet. Aber Paul verstand nichts, denn es waren lateinische Sätze. Und was sollte das sein? Fragend blickte
er Gregor an.
Der Bibliothekar lächelte. »Dieses Buch ist zweihundert Jahre alt«, erklärte er. »Eine Äbtissin hat es für ihre Nonnen geschrieben.
Sie war eine kluge Frau! Es ist ein Buch über alles, was man vor zweihundert Jahren wissen musste, wenn man gebildet sein
wollte. Deshalb nennt man so ein Buch auch Enzyklopädie, ›Kreis der Bildung‹.«
Paul betrachtete das Buch mit neuem Interesse. »Un ser Buch mit dem Karfunkelstein ist auch eine Enzyklopädie! Aber darin ist kein Bild mit diesen Frauen!«
»Nein, das hier ist etwas Besonderes«, erklärte Gregor.
Paul merkte, dass der Bibliothekar sich über sein Interesse freute. Gregor hielt ihn nicht für den Bücherdieb, das hatte er
ja selbst gesagt, als er mit Jakob und ihm in die Bibliothek gegangen war. Und wenn er jetzt mit Paul über ein besonderes
Buch sprach, wollte er ihm vielleicht sogar helfen. Es war möglich, dass er dann endlich verstand, warum das Buch mit dem
Karfunkelstein gestohlen worden war! Und wenn er das wusste, würde er vielleicht sogar den wahren Dieb herausfinden. Paul
spürte, wie er ruhiger wurde und sich auf das Bild konzentrieren konnte.
»Wieso ist das Bild etwas Besonderes?«, fragte er neugierig.
»Weil es den Mittelpunkt im Kreis der Bildung zeigt, nämlich die Philosophie mit den Sieben Freien Künsten.«
Pauls Gesicht sah aus wie ein Fragezeichen, aber Gregor erklärte sofort, was es bedeutete.
»Die Frauen im äußeren Kreis stellen die sieben Künste dar, die man beherrschen muss, wenn man Theologie, Medizin oder Recht
an den Universitäten Europas studieren will, in Bologna, in Oxford, in Paris oder in Prag.«
Paul blickte Gregor mit großen Augen an. »Bologna?«, fragte er neugierig. Das war in Italien! Da hätte er ja fast als Kaufmann
leben dürfen, wenn er nicht ins Kloster gekommen wäre!
»Ja«, nickte Gregor. »Eine wunderbare Stadt ungefähr auf dem halben Weg zwischen Genua und Venedig. Dort und überall in den
anderen Universitäten wird Latein gesprochen, damit man sich untereinander versteht, aber das allein reicht nicht. Man studiert
auch Fächer, die du bereits lernst. Hier auf der linken
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