Das Buch mit dem Karfunkelstein
betreten. Sehen konnte man sie nicht,denn sie waren hinter einem vielleicht zehn Fuß hohen Lettner verborgen.
Der Lettner sah aus wie eine Wand aus drei zugemauerten Brückenbögen. In die beiden äußeren Bögen waren zusätzlich Holztüren
eingelassen, die jedoch verschlossen waren. Auch bei den Stundengebeten waren die Mönche völlig abgeschlossen von der Welt,
sodass sie sich ganz auf Gott konzentrieren konnten.
Hinter dem Lettner wurde eine Tür geöffnet. Die Menschen im Kirchenschiff hörten leise Schritte und das Rascheln von Kutten.
Und dann erfüllte der Gesang eines geistlichen Liedes die Kirche. Die Vesper hatte begonnen.
Agnes wusste, dass dieses Lied viele Strophen hatte und sie deshalb genug Zeit für ihren Plan haben würden. Sie stieß Jakob
und Hannes an. Wie sie es vorher verabredet hatten, schlichen die drei Kinder leise zu den beiden Holztüren im Lettner. In
jede Tür war ein schmales kleines Kreuz geschnitzt, durch das man in den Chorraum spähen konnte.
Jakob und Hannes standen an der rechten Tür. Jakob versuchte, durch das Kreuz etwas zu erkennen.
»Da links ist das Gerüst der Glasarbeiter«, wisperte er. »Ich hatte recht! Hinter der Wand ist das Skriptorium.«
Hannes nickte. Jakob hatte ihm von Bruder Hildebert und seiner Furcht vor dem Teufel erzählt.
Leider war das Kreuz in der Tür zu schmal für beide Jungen. Jakob machte Platz, damit Hannes auch einen Blick in den Chorraum
werfen konnte.
Drei Kirchenfenster erkannte er in dem dämmrigen Licht über dem Hauptaltar. Eines war noch nicht fertig. Seine Öffnung war
mit Holzbrettern verschlossen. In den beiden anderen blitzte hier und da eine bunte Glasscherbe im Kerzenlicht auf.
In der Mitte unter den Fenstern stand der Altar, zu dem ein Priester zwei Stufen hinaufsteigen musste, wenn er die Messe feierte.
Bei der Vesper brannten dort jedoch nur Kerzen in ihren Leuchtern. Auch nahe beim Lettner mussten Kerzen sein, aber durch
das geschnitzte Kreuz in der Tür war nur ihr flackernder Lichtschein zu erkennen.
Zu beiden Seiten des Altars zogen sich zwei Reihen von Holzsitzen an den Wänden entlang. Sie waren mit Schnitzereien verziert.
Zwischen den Sitzreihen standen sich die Mönche gegenüber und sangen.
»Die haben es gut!«, murmelte Hannes. »Sie dürfen sich wenigstens setzen! Im Kirchenschiff ist nicht eine einzige Bank.«
Angestrengt versuchte er, unter den dunklen Gestalten einen Mönch zu entdecken, den er kannte. Er runzelte die Stirn.
»Man kann ihre Gesichter nicht erkennen«, wisperte er. »Es ist zu dunkel!«
»Lass mich mal sehen«, flüsterte Jakob. Hannes rückte zur Seite. »Du hast recht. Und hier bei uns auf der Seite verdecken
sie sich auch noch gegenseitig.«
Immer wieder wechselten sich die Jungen an der Tür ab und beobachteten jede Bewegung der Mönche, aberes war nichts Auffälliges festzustellen. Sie standen andächtig da und bewegten sich kaum beim Beten und Singen.
Agnes an der linken Tür presste ein Auge an das geschnitzte Kreuz. Sie musste erst ein wenig zwinkern, denn im kalten Luftzug
fing es an zu tränen, aber nach einer Weile konnte sie wieder etwas sehen.
Auch sie konnte nur einen Teil des Chorraums überblicken. Auf dem Altar blinkte der goldene Rahmen des Altarbildes.
Agnes konzentrierte sich auf die Reihe der Mönche, die sie von ihrer Tür am besten sehen konnte, und begann sie zu zählen.
Es waren achtzehn. Die kleineren Gestalten hinter ihnen waren wohl Novizen und Oblaten. Sie versuchte, mehr zu erkennen als
nur Umrisse und die hellen Flecken, wo ihre Gesichter waren.
»Warum gibt es hier nicht mehr Kerzen?«, murmelte sie ärgerlich.
Trotzdem ließ sie die Mönche nicht aus den Augen. Weil sie so still dastanden, fiel jede Bewegung auf. Sie fuhr richtig zusammen,
als einer von ihnen die Hand hob. Aber offenbar kratzte er sich nur an der Nase.
Lange Zeit passierte nichts. Die Mönche sangen und beteten. Weil sie alle in einer Inneren Schule ausgebildet worden waren,
konnten sie die vielen Hundert Melodien und Texte auswendig. Sie brauchten keine Bücher, in denen sie blättern mussten, um
die richtigen Gesänge des Tages zu finden. Agnes bedauerte das, denn dannwäre auch mehr Licht nötig gewesen, und sie hätte wenigstens ihre Gesichter sehen können.
Agnes’ Auge fing wieder an zu tränen. Sie wollte gerade aufgeben und ihren Beobachtungsposten verlassen, als doch etwas geschah.
Sie zwinkerte heftig die Tränen weg und starrte
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