Das Buch Ohne Gnade: Roman
Kondenswasser rann an den Wänden herab, und die kalte Luft war feucht und klebrig. Außerdem hingen ein paar Schweinehälften von der Decke herab. Aber von Sanchezwar nichts zu sehen. Angus warf einen Blick auf den Fußboden und sah, dass die Blutspur sich fortsetzte. Sie führte zu dem Regalgang auf der linken Seite. Das war zu erwarten gewesen, denn dort befand sich der Teil der Kühlkammer, der von der Tür am weitesten entfernt war.
Er ging langsam zum linken Regal und blickte vorsichtig in den Gang. Eine lange Reihe kopfloser Schweinekadaver hing an der Decke. Die Blutspur führte an ihnen vorbei. Irgendetwas störte Angus an dieser Blutspur. Sie sah nicht so aus, als stammte sie von jemandem, der gerannt oder aufrecht gegangen war. Sie verlief in einer ununterbrochenen Linie auf dem Fußboden, als ob Sanchez dort auf dem Bauch entlanggekrochen wäre. Angus schob sich leise um das erste Schlachtschwein herum, während er den Finger um den Pistolenabzug krümmte. Der Geruch in diesem Bereich der Kühlkammer war besonders abscheulich. Verdorbenes Fleisch, das hier zweifellos zu lange aufbewahrt worden war, obgleich es schon ziemlich verfault sein musste, um in gefrorenem Zustand einen solchen Gestank zu verströmen. Entweder das oder Sanchez versteckte sich dort und hatte sich in die Hose geschissen.
Der Regalgang war nicht länger als gut sechs Meter. Sanchez war nirgendwo zu sehen. Während Angus sich weiterhin wachsam umschaute und jeden Moment mit einem Hinterhalt rechnete, folgte er der Blutspur, bis sie ein kurzes Stück vor dem Ende des Gangs abbrach. Er blieb stehen und sah sich um. Wenn hier die Spur endete, musste Sanchez den Fußboden verlassen haben und in die Höhe geklettert sein. Die Regalbretter zu beiden Seiten des Gangs waren mit Kartons vollgestapelt. Vor der Wand in einiger Entfernung ragte hinter dem letzten Karton auf dem untersten Regalbrett etwas hervor. Es war ein Paar auf Hochglanz polierter Slipper. Während er sich näher heranschlich, stellte er fest, dass die Füße des Eigentümers noch in den Schuhen steckten.
Er schob sich um den letzten Schweinekadaver herum und gelangte mit einem beherzten Sprung vor die Schuhe. Dabeihielt er die Pistole schussbereit im Anschlag. Ihm bot sich ein Anblick, den er nicht erwartet hatte. Verwirrt über das, was er vor sich sah, ließ er die Pistole sinken. Der Eigentümer der Schuhe war ein Mann, aber der war bereits tot. Und zudem halb gefroren. Und es war nicht Sanchez. Aber wer zum Teufel war das? Gefrorenes Blut bedeckte Gesicht und Hals des Mannes. Aufgehalten wurde das Blut unterhalb des Kinns von einem rotschwarz gemusterten Halstuch. Angus griff in den grauen Sakko des Mannes und fand einen Führerschein. Er holte ihn heraus und inspizierte ihn. Das Foto des Inhabers glich dem blutbesudelten Gesicht der Leiche.
»Wer zur Hölle ist Jonah Clementine?«, flüsterte Angus halblaut.
Er hatte die Frage kaum ausgesprochen, als die Tür der Kühlkammer hinter ihm zuschlug.
Scheiße! Sanchez!
Sanchez hatte sich unter einen der stählernen Rolltische in der Küche gekauert. Er hatte einen mit einer weißen Tischdecke gefunden, die auf allen vier Seiten bis zum Fußboden herabhing, und war daruntergekrochen. Zu seinem Glück verhüllte die Decke alles bis auf seine Füße. Und auch die waren nur zu sehen, wenn man sich tief herabbückte, um unter den Tisch zu blicken.
Zu seiner unendlichen Erleichterung war Angus schließlich auf den verräterischen Hinweis hereingefallen und der Blutspur auf dem Fußboden bis in den Kühlraum gefolgt. Einige angsterfüllte Sekunden lang hatte Sanchez abgewartet, was der rachsüchtige Profikiller tun würde. Er war nicht besonders clever und galt ganz gewiss nicht als raffiniert. Hinterlistig, sicherlich. Heimtückisch und verlogen, auch das. Verschlagen, absolut. Aber raffiniert? Verdammt, niemals.
Er hatte die Blutspur gesehen und darauf gesetzt, dass Angus ihr in die Kühlkammer folgen würde. Schließlich hatte sich eins seiner Wagnisse ausgezahlt. Wenn sein Leben auf dem Spielstand, war Sanchez’ Fähigkeit, sich aus nahezu jeder Gefahr herauszuwinden, geradezu eines wahren Genies wie Einstein persönlich würdig. Natürlich folgten seinen genialen Momenten gewöhnlich Augenblicke grenzenloser Selbstgefälligkeit gepaart mit dem überwältigenden Drang, sich damit zu brüsten, worauf, wie sich in der Vergangenheit bei vielen Gelegenheiten erwiesen hatte, praktisch immer eine Art wohlverdiente Strafe
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