Das Buch Ohne Gnade: Roman
»Das ist unhygienisch!«
Der Wachmann, der Clementines Beine trug, zuckte die Achseln. »Gunther hat das angeordnet. Die Leiche soll aus dem Weg geschafft werden, bis der Krankenwagen kommt.«
»Na schön, dann bringt sie von mir aus in die Küche. Hier will ich sie nicht haben.«
»Genau das wollen wir tun. Wenn du einfach aus dem Weg gehen würdest, wäre das eine große Hilfe. Sieh doch – hier tropft ständig Blut aufs Parkett.«
Valerie trat zur Seite und verfolgte, wie sie sich durch die Tür hinter der Theke drängten, die alle ihre Kollegen kurz vorher als Fluchtweg benutzt hatten.
»Und erwartet bloß nicht, dass wir das Blut hinter euch aufwischen!«, rief sie. »Das könnt ihr gefälligst selbst tun.«
Von seinem Platz an der Theke hörte der Bourbon Kid, wie einer der Wachmänner aus der Küche ein wütendes »Leck mich doch!« brüllte. Keiner der beiden hatte es gewagt, ihn auch nur anzusehen, als sie an ihm vorbeigingen, aber es machte ihnen offensichtlich nichts aus, eine junge Bardame zu beschimpfen. Zu ihrer Verteidigung muss festgestellt werden, dass sie ihn auf keinen Fall in Rage bringen wollten. In früheren Zeiten hatte es genügend Meldungen über ihn gegeben, um den Leuten klarzumachen, dass es immer klug war, ihm aus dem Weg zu gehen. Er tötete ohne Motiv, wann immer er Lust dazu hatte. Und es war ihm egal, wen er tötete, ganz gleich ob Mann, Frau oder Kind. Zumindest hieß es so in den Nachrichten. Und wer hatte schon Lust auszuprobieren, ob diese Theorie zutraf? Sicher, im Hotelwohnten größere – und sicherlich auch um einiges härtere – Typen als er, aber die Aura des Bösen und der Unberechenbarkeit, die ihn umgab, sorgte dafür, dass niemand, ganz gleich wie groß oder stark, es aus freiem Willen wagen würde, sich ihm entgegenzustellen.
Valerie suchte verzweifelt nach einem Vorwand, um in Richtung Küche zu verschwinden. Sie wollte sich auf keinen Fall in der Nähe des Bourbon Kid aufhalten, aber unglücklicherweise war sie diejenige Person, die ihm am nächsten war. Das heißt, bis eine einsame Gestalt die Bar betrat. Ein Mann, der offenbar mutig genug war, um dem Kid Gesellschaft zu leisten. Er hatte die Halle außerhalb der Bar durchquert und die Leute bemerkt, die eilig herausgekommen waren. Valerie sah, wie er kurz anhielt und sich bei einem jungen Paar erkundigte, was denn geschehen sei. Sie tat so, als säuberte sie die Theke, und beobachtete gleichzeitig, wie das Paar mit einem Kopfnicken auf den Kid deutete und offenbar dem Mann schilderte, was sich zugetragen hatte, als der Bourbon Kid mit Jonah Clementine aneinandergeriet. Dann, offensichtlich unbeeindruckt, kam dieser Mann herein und schlenderte jetzt zu dem Ende der Theke, an dem der Kid saß.
Der Kid hatte soeben sein drittes Glas Bourbon geleert. Der Mann, der sich ihm näherte, war zu einem Schwätzchen aufgelegt und dachte wohl, dass der Kid dem nicht abgeneigt wäre. Valerie erkannte in ihm einen der Sänger der Back-From-The-Dead -Show. Sein Name war Julius und er war ein ziemlich harmlos aussehender Schwarzer mit einem Schädel, so kahl und glatt wie eine Billardkugel. Er war nicht größer als eins fünfundsechzig und dazu schlank und schien ständig zu tänzeln. Sein federnder Gang und der violette Samtanzug ließen ihn aussehen wie einen Zuhälter, der die Absicht hatte, dem Kid eine seiner Huren anzubieten.
Tatsächlich war er ein James-Brown-Double und im Hotel, um den Gesangswettbewerb zu gewinnen. Das einreihige violette Jackett, das er trug, war offen, sodass darunter ein hellblauesOberhemd zum Vorschein kam. Seine Hosen waren unterhalb der Knie weit ausgestellt und verliehen dem Anzug den typischen Siebzigerjahre-Look. Er entschied sich für einen Barhocker links vom Bourbon Kid und höchstens einen Meter von ihm entfernt. Sobald er es sich gemütlich gemacht hatte, hielt er nach der Bedienung Ausschau.
»Yo, Valerie!«
Sie hatte sich alle Mühe gegeben, sich von diesem Ende der Theke fernzuhalten in der Hoffnung, dass sie damit mögliche neue Gäste animierte, sich ans andere Ende zu setzen. Aber jetzt saß Julius direkt neben dem Mann, der Valerie – und alle anderen – veranlasst hatte, das Weite zu suchen.
»Ein Bier für mich, und für meinen Freund, was immer er trinken möchte.«
Der Kid reagierte sofort auf seine übliche unfreundliche Art und Weise. »Ich bin nicht dein verdammter Freund«, knurrte er und sah seinen neuen Nachbarn noch nicht einmal an.
»Das könntest du
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