Das Buch ohne Namen - Anonymus: Buch ohne Namen - The Book With No Name
wollte, doch auf gewisse Weise hatte sie so dicht davor gestanden, wie es nur denkbar war, und in dieser Gegend der Welt zählte das schon fast so viel wie ein richtiges Dankeschön.
»Du kannst mir danken, indem du mir verrätst, was zur Hölle mit meinem Bruder und meiner Schwägerin passiert ist«, sagte er.
Jetzt war Jessica an der Reihe. Es war ihre Chance, sich für seine Hilfe zu revanchieren. Sie konnte ihm helfen, den Mörder seines Bruders und seiner Schwägerin zu finden. Ihre Antwort jedoch war so wenig hilfreich, wie er es inzwischen schon fast erwartete.
»Was meinst du mit ›passiert‹?«
»Wer sie ermordet hat. Das meine ich.«
»Oh. Das.«
»Ja, das.«
»Keine Ahnung.«
» Keine Ahnung? «
»Ganz genau. Keine Ahnung.«
»Aber du warst dort, oder nicht?«
»Ich war. Zumindest denke ich, dass ich dort war. Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht. Nicht so genau jedenfalls.«
»Wie kannst du dich verdammt noch mal nicht daran erinnern, ob du da warst, als sie ermordet wurden?« Sanchez stand dicht davor, die Geduld zu verlieren. Es fiel ihm zunehmend schwerer, seine Frustration unter Kontrolle zu halten.
»Meine Erinnerung kommt und geht im Moment«, sagte Jessica leise und blickte zur Seite, zu einem Ort in weiter Ferne. »Ich hab so eine Art Amnesie, aber sie beschränkt sich nicht nur auf die Sachen, die vor dem Koma passiert sind. Wenn ich in einem Koma war, heißt das … ich vergesse immer wieder, wo ich bin und wie ich dorthin gekommen bin. Es kommt wieder, wenn ich angestrengt überlege, aber selbst dann weiß ich nicht sicher, ob ich mir nicht alles nur einbilde.«
»Du erinnerst dich daran, dass du heute Morgen hier warst, oder?«
»Ja, daran erinnere ich mich. Und ich erinnere mich auch, dass ich zusammen mit Jefe gegangen bin. Wir sind zu seiner Wohnung gegangen, und er hat gesagt, ich solle dort auf ihn warten. Ich hab gewartet, aber er ist nicht wiedergekommen. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, warum ich warten sollte, also dachte ich, ich komme hierhin und rede mit dir. Ich dachte, du könntest mir vielleicht ein paar Dinge erklären. Du weißt schon, ob du glaubst, dass ich eine nette Person bin oder ein Miststück. Im Augenblick weiß ich nämlich nicht so genau, was von beidem ich bin.«
»Offen gestanden, Jessica, ich weiß es auch nicht so genau«, antwortete Sanchez mit einem Seufzer.
»Oh.« Sie wirkte ein wenig enttäuscht. Für einen Moment glaubte Sanchez, er hätte ihre Gefühle unnötig verletzt.
»Du siehst viel zu süß aus, um ein schlechter Mensch zu sein«, sagte er in dem Versuch, sie ein klein wenig aufzumuntern.
»Danke.« Sie saugte an dem Strohhalm ihrer Bloody Mary. Der Flüssigkeitsstand im Glas sank um gut fünf Zentimeter, bevor sie unvermittelt den Kopf zurückriss.
»Der gelbe Cadillac!«, sprudelte sie hervor und hatte unverzüglich Sanchez’ volle Aufmerksamkeit.
»Ja? Was weißt du über den gelben Caddy?«, fragte er mit glitzernden Augen.
»Du hast ihn vorhin erwähnt, als du mit Jefe geredet hast, nicht wahr?«
»Ja. Ich hab ihn von der Farm meines Bruders wegfahren sehen, nachdem ich ihn und seine Frau tot vorgefunden hatte. Weißt du, wer den Wagen gefahren hat? Hast du den Fahrer gesehen?«
»O mein Gott! Ich erinnere mich wieder! Es waren zwei Männer. Sie haben deinen Bruder und seine Frau umgebracht. Ich hab es gesehen. Wenigstens glaube ich, dass ich es gesehen habe. Nein, warte …«
»Was denn? Was denn, Herrgott noch mal!«
»Sie waren nicht tot. Die beiden Männer haben sie geschlagen. Sie haben versucht, Informationen aus ihnen herauszuholen.« Sie stockte für eine ganze Sekunde, dann ächzte sie auf.
»O Scheiße!«
»›O Scheiße‹ – was?«
»Scheiße, sie haben nach mir gesucht!« Sie starrte Sanchez aus weit aufgerissenen Augen und eindeutig fassungslos an.
»Und? Haben sie dich nicht gesehen?«, fragte er.
»Nein. Nein, aus irgendeinem Grund konnten sie mich nicht sehen. Also bin ich nach draußen geschlichen, und da habe ich den gelben Cadillac gesehen.«
»Und was ist dann passiert?«, fragte der frustrierte Barmann, enttäuscht, weil sie sich an so wenig erinnerte. Er gab sich die größte Mühe, sich nichts anmerken zu lassen und mit ruhiger Stimme zu sprechen.
Sie nahm ihre Bloody Mary und saugte erneut am Strohhalm. Diesmal leerte sie das Glas völlig. Sie benötigte vielleicht zehn Sekunden. Sanchez wusste nicht so genau, was er als Nächstes fragen konnte, und seine Chance endete
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