Das Buch Rubyn
es gibt noch Eiscreme!« Aber die Gäste rannten über den sumpfigen Rasen, der mit zertrampelten Damenhüten übersät war. Keiner achtete auf sie.
Michael war gerade wieder aufgestanden, als er am Arm gepackt und herumgerissen wurde.
»Das ist alles deine Schuld!« Miss Crumleys Haar glich einem tropfnassen Helm. Rinnsale aus grüner Wimperntusche flossen über ihre Wangen. Ihre Gäste waren fort, genauso wie die Musikanten, die eilig ihre Instrumente zusammengepackt hatten. »Ich weiß nicht, wie du es gemacht hast, aber ich weiß genau, dass es deine Schuld ist!«
Michael schoss der Gedanke durch den Kopf, dass die Frau ausnahmsweise einmal recht hatte. Aber noch ehe er ein Wort sagen konnte, fuhr ein Windstoß über den Rasen, riss das Zelt aus der Verankerung und hob es wie ein riesiges gelbes Segel in die Luft. In einem Anfall von Panik ließ Miss Crumley Michael los und packte eins der Seile, mit denen das Zelt befestigt gewesen war. In Sekundenschnelle wurde sie vom Boden und in die Höhe gerissen. Hin und wieder schrammten ihre Füße über das Gras, und ein paar Mal schlug sie hart auf, bis sie schließlich losließ und mit dem Gesicht in einer Pfütze landete.
Michael rannte zu ihr.
»Hilf mir auf!«, befahl die Frau. Sie war über und über mit Schlamm bespritzt, hatte beide Schuhe verloren, und ihr Kleid hing nur noch in Fetzen. »Hilf mir auf, du Bösewicht!«
»Es tut mir wirklich leid«, sagte Michael, griff in ihre Tasche und zog die Schlüssel heraus. »Ganz ehrlich.«
»Haltet den Dieb!« Miss Crumleys Kreischen verfolgte ihn bis zur Tür des Waisenhauses.
Drinnen herrschte heilloses Durcheinander. Kinder rannten kreuz und quer durch die Dunkelheit und schrien vor Entzücken über das unbändige Wetter.
»Michael!« Kate tauchte auf. Sie war außer Atem und ihre Augen waren schreckengeweitet. In ihren Armen hielt sie das Buch Emerald. Sie drückte es fest an die Brust, gab sich aber keine Mühe mehr, es vor neugierigen Blicken zu schützen.
»Hast du …?«
»Ja!«
Und in dem Moment, als Michael den Schlüsselbund in die Höhe hielt, erklang der erste Schrei. Er kam von draußen, noch ein ganzes Stück weit entfernt, aber er übertönte den Regen und den Wind und ließ jedes Kind im Haus zur Salzsäule erstarren. Michael schaute seine Schwester an. Sie beide wussten, wer diesen Schrei ausgestoßen hatte: ein Morum Cadi – ein Kreischer. Eins von den abstoßenden, untoten Geschöpfen, die sie schon in Cambridge Falls verfolgte hatten. Und als der Schrei durch das Haus hallte, empfand Michael wieder die gleiche erstickende Angst.
Es ist wahr , dachte er. Sie haben uns gefunden .
Das Kreischen erstarb. Die Kinder rührten sich wieder, aber die Furcht hatte sie gepackt und sie klammerten sich aneinander und weinten. Kate riss Michael die Schlüssel aus der Hand und rannte den Gang entlang.
»Komm mit!«, rief sie ihm zu.
Miss Crumleys Büro befand sich im Nordturm, am Ende einer steilen Wendeltreppe. Michael und Kate rannten durch die dichter werdende Dunkelheit hinauf. Oben angekommen hörten sie Emma, die gegen die verschlossene Tür hämmerte und brüllte: »Lasst mich raus! Lasst mich raus! Hilfe!«
»Emma!«, schrie Kate. »Wir sind’s! Wir holen dich da raus!«
Im Dämmerlicht tastete sie nach dem Schlüsselloch, und einen Moment später war die Tür offen und Emma, die Jüngste der Familie, ihre kleine Schwester, lag in ihren Armen.
»Alles klar?«, fragte Kate. »Bist du verletzt?«
»Nein, mir geht’s gut. Aber habt ihr den Schrei gehört?«
»Ja.« Kate trat in das Büro, zog Michael und Emma mit sich und schloss die Tür.
Miss Crumleys Büro war ein kleiner runder Raum mit vier Fenstern. In der Mitte des Raums standen ein Tisch und zwei Stühle und an einer Wand ein stählerner Aktenschrank und ein alter, schäbiger Kleiderschrank.
»Kate!«
Emma stand an einem der Fenster. Michael und Kate traten neben sie, gerade in dem Moment, als ein Blitz über den Himmel zuckte. Aus dem Wald traten drei Gestalten und hasteten über den asphaltierten Hof auf das Waisenhaus zu. Die Kinder erkannten die ruckartigen Bewegungen der Kreischer. Alle drei Ungeheuer hatten ihre Schwerter gezückt.
Mit kurzen Worten erläuterte Kate ihren Plan. Sie würde sie mit Hilfe des Buchs nach Cambridge Falls bringen. Sobald sie weg waren, würden die restlichen Kinder in Sicherheit sein.
»Schnell«, sagte Kate, »nehmt …«
Aber weiter kam sie nicht. Das Fenster zersplitterte, eine
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