Das Buch Von Ascalon: Historischer Roman
und Karawanen der Heiden zu überfallen ist eine Sache – unseren Auftrag zu erfüllen hingegen etwas anderes.«
»Es kommt darauf an.«
»W ie meinst du das?«
Um Guillaumes schmale Lippen spielte ein grausames Lächeln. »W eder haben sich die Fleischtöpfe von selbst gefüllt, Eustace, noch haben die Heiden ihren Besitz freiwillig an uns abgegeben. Wir haben die Initiative ergriffen. Hast du nicht selbst gesagt, dass die heiligen Reliquien demjenigen, der sie findet, Macht und Einfluss eintragen werden?«
»Das habe ich, aber …«
»Also sollten wir dafür sorgen, dass sie gefunden werden«, schnitt Guillaume dem Vorsteher der Bruderschaft das Wort ab. »Anders werden wir die Machtverhältnisse im Heer nicht ändern können.«
»Bruder!« Eustace sah ihn zweifelnd an. »Ich höre deine Worte, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, was sie bedeuten.«
»Oh, doch, du hast verstanden.« Ebenso wie er selbst es getan hatte, als seine Mutter ihm den Plan zum ersten Mal vorstellte. »V or einigen Wochen machte ich die Bekanntschaft eines Mannes, der sich Peter Bartholomaios nennt.«
» Peter Bartholomaios?« Eustace schüttelte den Kopf. »Ich habe nie von ihm gehört.«
»Die wenigsten haben das. Er stammt aus einfachen Verhältnissen, und ich werde dich nicht mit Berichten darüber langweilen, wie ich ihn kennenlernte. Aber jener Bartholomaios behauptet, Visionen vom heiligen Andreas zu haben.«
»Er hat Visionen von Sankt Andreas?«, fragte Eustace staunend.
»Nein«, widersprach Guillaume. »Du hörst mir nicht richtig zu. Ich sagte, er behauptet , Visionen zu haben. Ob er die Wahrheit spricht oder nur ein verrückter Eiferer ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Es ist auch nicht von Belang. Ich weiß nur, dass dieser Mann etwas an sich hat, das Menschen zu überzeugen vermag. Und ich denke, dass wir uns seiner bedienen sollten, um unseren Einfluss zu mehren.«
»Uns seiner bedienen?« Eustace starrte Guillaume fragend an, so als müsse er sich versichern, ob er recht gehört hatte. »Aber das … das wäre Betrug! Mehr noch, es wäre eine Sünde gegen alles, was …«
»Ist es eine Sünde, der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen? Wir wissen beide, dass es jene Reliquien gibt, die der Herr auf Erden zurückließ, und wir haben einen feierlichen Eid geleistet, sie zu suchen und zu finden, was uns vielleicht auch irgendwann gelingen wird. Aber das Wunder wird nicht irgendwann benötigt, Eustace, sondern bald. Sieh hinab ins Tal, auf diesen Haufen trauriger Verlierer – das ist es, wozu wir verkommen sind! Denkst du nicht, dass diese Männer Hoffnung und Zuversicht verdienen?«
»Nun … ja. Aber durch eine Lüge?«
»Die Lüge ist die Wahrheit der Mächtigen, Eustace, das weißt du so gut wie ich, und wir sollten uns nicht länger scheuen, nach deren Regeln zu spielen. Die heutige Niederlage wird nicht endgültig sein. Wenn das Hauptheer eintrifft, wird es uns fraglos gelingen, die Brücke über den Orontes einzunehmen, und auch Antiochia wird früher oder später fal l en. Aber ohne Zweifel werden Tage kommen, da sich unsere Anführer erneut entzweien und sich als unfähig erweisen werden, dieses Heer zu führen – und wie viele Rückschläge können wir noch verkraften? Wie lange noch, bis diese heiligste und größte aller Unternehmungen am Kleinmut ihrer Führer scheitern wird? Man braucht kein Prediger zu sein, um zu ahnen, dass das Ende nahe ist – es sei denn, die Bruderschaft ist bereit, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Die Frage, die wir uns also stellen müssen, lautet: Ist die Bruderschaft dazu bereit? Bist du dazu bereit, Bruder?«
In Wirklichkeit war es keine Frage, sondern eine Aufforderung. Guillaume hatte sich Eustace zugewandt und streckte ihm die Rechte entgegen, um ihm wieder auf die Beine zu helfen.
Die dunklen Augen des Provenzalen musterten ihn prüfend. Es war nicht zu erkennen, ob Eustace de Privas begriff, dass jener junge normannische Edelmann, den er aus reiner Gefälligkeit in seine Reihen aufgenommen hatte, in diesem Augenblick versuchte, ihn an Macht und Geltung zu überflügeln. Dennoch kam er zu einem raschen Entschluss. »Ich bin bereit, Bruder«, versicherte er, während er sich aus eigener Kraft auf die Beine raffte. »Bereit, gemäß dem Schwur zu handeln, den ich gegeben habe, und nötigenfalls auch mein Leben dafür einzusetzen. Aber ich bin nicht bereit, unsere Mitbrüder und alle anderen, die sich der Teilnahme an diesem Feldzug verschrieben haben,
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