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Das Buch Von Ascalon: Historischer Roman

Das Buch Von Ascalon: Historischer Roman

Titel: Das Buch Von Ascalon: Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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dass die seldschukischen Machthaber ihnen freiwillig öffneten, würde ein erbitterter Kampf die Folge sein, der auch das Umland in Mitleidenschaft ziehen würde.
    Zusammen mit den Flüchtlingen passierte Chaya das Brückentor und fand sich innerhalb der Jahrhunderte alten Mauern wieder, die die Stadt in einem weiten, von vierhundert Türmen gesicherten Ring umgaben. Während der westliche Rand Antiochias noch einen Teil des Wadis umfasste und aus üppigen Gärten bestand, die zumindest einen Teil der Bevölkerung auch in Krisenzeiten zu ernähren vermochten, grenzte unmittelbar daran das braungraue Häusermeer, über dem sich weit im Osten auf dem Berg Silpius die Zitadelle der Stadt erhob.
    Nach all den Wochen und Monaten, die sie auf See, in kleinen Siedlungen oder inmitten ungezähmter Wildnis verbracht hatte, war Chaya in keiner Weise vorbereitet auf das G edränge, die Lautstärke und die rastlose Hetze, die in den Straßen herrschten und auf sie einstürzten. Staubwolken lagen zwischen den Gebäuden, in denen sich Pferde, Esel, Kamele und Ochsengespanne drängten. Dazwischen versuchten Menschen vorwärtszukommen, während von beiden Straßenseiten Händler riefen, die ihre Waren verkaufen wollten. Kinder schrien, Schafe blökten, hier und dort wurden heisere Befehle gebrüllt, wenn die Stadtwache das Treiben ein wenig zu ordnen suchte.
    Das jüdische Viertel lag südöstlich des Zitadellenberges, sodass Chaya die Stadt durchqueren musste. Die Eindrücke, die unterwegs auf sie einstürmten, waren überwältigend. Wundersame Dinge, die sie im Vorbeigehen sah, aber nicht verstand, fremdartige Gerüche und ein Gewirr aus unverständ­lichen Sprachen machten ihr unmissverständlich klar, dass sie weiter von zu Hause entfernt war als je zuvor und dass es zum ersten Mal in ihrem Leben niemanden mehr gab, auf dessen Schutz und Hilfe sie zählen konnte. Noch immer ging sie als Mann verkleidet, doch ihr war nur zu bewusst, wie dünn der Mantel war, der sie schützte, und wie leicht er im wörtlichen Sinne zerreißen konnte.
    Entsprechend groß war ihre Erleichterung, als sie die Gassen des jüdischen Viertels erreichte. Auf ihre Frage, wo sich das Haus des Kaufmanns Ezra befinde, wies man ihr den Weg zu einem Gebäude, das sich am Ende einer schmalen Straße befand. Nach außen hatte es lediglich ein Tor und zwei kleine Fenster, aber die drei Stockwerke und die Sonnensegel, die sich in luftiger Höhe über den Dachgarten spannten, ließen vermuten, dass es sich um das Haus eines wohlhabenden Bürgers handelte. Nun, da sie ihrem Ziel so nahe war, merkte Chaya, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Sollte ihre Reise, die weit mehr als ein Jahr gedauert, die sie von einem Ende der Welt zum anderen geführt und die ihren Vater das Leben gekostet hatte, tatsächlich zu Ende sein?
    Wie in Trance ging sie die letzten Schritte und trat unter d en Baldachin, der das Eingangstor vor den Sonnenstrahlen beschirmte.
    Dann klopfte sie an.
    »Ja?«, fragte jemand von drinnen auf Hebräisch.
    Chaya atmete innerlich auf. Es war beruhigend, eine Sprache zu hören, die sie verstand. Sie antwortete, dass sie den Kaufmann Ezra Ben Salomon in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen wünsche, worauf die Tür geöffnet wurde und die verkniffene Miene eines ältlichen Mannes erschien, der wohl der Hausverwalter war.
    »W eshalb wollt Ihr den Kaufmann sprechen?«, verlangte er zu wissen.
    »Ist dies sein Haus?«
    »Das ist es. Aber Ihr werdet diese Schwelle nicht übertreten, ehe Ihr mir nicht gesagt habt, wer Ihr seid und was Ihr wollt.«
    Chaya holte tief Luft. Es war an der Zeit, die Maske fallen zu lassen. Mit einer flüchtigen Handbewegung streifte sie das Kopftuch ab und offenbarte ihre weichen Gesichtszüge und ihr fast bis zu den Schultern reichendes Haar.
    »W as in aller Welt …?«
    »Ich bin Chaya, die Tochter seines Bruders Isaac Ben Salomon«, sagte Chaya rasch, worauf der Verwalter verstummte. Sein Mienenspiel wechselte von Entrüstung zu Überraschung und schließlich zu Ratlosigkeit.
    »W artet hier«, beschied er ihr und schloss die Tür wieder. Einen bangen Augenblick lang fragte sich Chaya, ob sie ihre Chance bereits vertan und es ihr womöglich gar nicht gelingen würde, zu ihrem Onkel vorgelassen zu werden.
    Die Ungewissheit währte zum Glück nicht lange, denn schon kurz darauf wurde die Tür erneut geöffnet und nicht der mürrische Hausverwalter stand auf der Schwelle, sondern ein stämmiger Mann, der um die sechzig

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